Literatur-Analyse als Krisendetektor
Schwerpunkt-Analyse // Literatur als strategischer Faktor
Im Schwerpunkt widmet sich Lagebild Sicherheit den Themen, welche besondere Aufmerksamkeit verdienen. Schon lange vor dem Krieg in der Ukraine ließ sich aus der Literatur das russische Narrativ herauslesen. Schon 2014/15 ließen sich Zusammenhänge zwischen der Literatur in Algerien und Tunesien in Zusammenhang mit den Zahlen freiwilliger IS-Kämpfer ersehen. Das Bundesministerium der Verteidigung förderte bereits ein entsprechendes Projekt des Literatur-Monitorings. Lagebild Sicherheit widmet sich daher dem Thema Literatur-Analyse als Krisendetektor in dieser Schwerpunkt-Analyse.
Von Isabelle Holz, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Spitzenforschungscluster MOTRA und ehem. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im “Cassandra-Projekt” und Dr. Christian Hübenthal, Herausgeber Lagebild Sicherheit.
Seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine wird viel über die Funktion und Wirkmacht von Social Media, Fake News, Desinformation und Propaganda gesprochen und geschrieben, kaum aber über die von Literatur. Sie wurde lediglich kurzzeitig zu einem Streitthema, als der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von der „reichhaltigen russischen Kultur“ sprach, sehr zum Ärger mancher internationalen Partner.
Dabei sind insbesondere literarische Texte/Fiktionen und ihre Rezeptionsphänomene ein Datensatz. Ein Datensatz mit politischem, prognostischem und diplomatischem Potenzial – verfügbar und analysierbar. Öffentlich ist dieser Datensatz als Mittel der Krisenprävention bisher wenig bekannt. Das BMVg und zahlreiche Geheimdienste weltweit beginnen jedoch, sich diesem Potential für strategische Analysen zunehmend systematisch zu widmen. Seit 2019 wird beispielsweise das französische Verteidigungsministerium von Science-Fiction-AutorInnen beraten. Von 2017 bis 2020 förderte das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) die Studie „Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung“ (kurz „Cassandra-Projekt“) und ging damit eine Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ein, wie sie, so schrieb der Guardian 2021, „die Welt noch nicht gesehen hatte.“
Literatur als Krisenradar für den Krieg in der Ukraine
Osteuropäische und russische SchriftstellerInnen warnen Europa seit vielen Jahren vor Putin und dem unter seiner Führung entstehenden politischen System. Ein System, welches sich in vielen Punkten Orwells Dystopie („1984“, erschienen 1949) angleicht, inklusive „Doppeldenk“ (kognitive Realitätskontrolle) und „Neusprech“ (Kontrolle des Denkens über Sprache/Begriffe) - aus guten Gründen ist das Wort „Krieg“ in Russland aktuell nicht in russischen Medien vorhanden. Literatur ist sogar eine Standleitung in beide Denkrichtungen innerhalb eines Staates. Die Narrative der Befürworter des Staates werden ebenso veröffentlicht, wie die der Gegner. Romane von Jewhen Poloschij (Ilowajsk, 2015), Serhij Zhadan (Internat, 2017), Yevgenia Belorusets (Stschastliwye padenija, 2018) oder Tamara Gorikha Zernya (Dotsya, 2019) geben Einblick in das komplexe Verhältnis der Ukraine zur russischen Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass. Sie beschreiben innerukrainische Beziehungen, das Verhältnis zu Russland und die Narrative des Kremls, welche die pro russischen Separatisten aufgenommen haben: Nationszugehörigkeit über Muttersprache, die Bedrohung Russlands durch den Westen, etc. Diese haben langsam aber beständig die Grundlage für den Krieg geschaffen. Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch (Belarus) hat Anfang Februar im Spiegel über den russischen Einmarsch in die Ukraine gesprochen und keine Illusionen über Putins Pläne gehabt. Natürlich sind dies nur einzelne Beispiele, ein Monitoring der Texte, Themen, Rezeptionsräume und der literarischen Infrastruktur ermöglicht es aber, ein komplexes Gesamtlagebild zu erstellen.
Komplexer als Social-Media-Analysen, aber den Trends weiter voraus
Literatur ist komplexer als Twitter oder TikTok, doch sie kann in Form von Utopien, Dystopien oder als Satire Zensuren unterlaufen. Sie existiert auch dann noch, wenn Twitter, Facebook, Instagram und WhatsApp – wie in Russland – blockiert sind. Sie dokumentiert Krisenphänomene und Transformationsprozesse, lange bevor sie bei Twitter trenden.
Während in der Ukraine in den letzten Jahren demokratische Erzählungen an Einfluss gewonnen haben, lässt sich in Russland seit Jahren der Einfluss nationalistischer Erzählungen beobachten (der russische Schriftsteller Sachar Prilepin ist hier nur ein Beispiel). Das soll keinesfalls heißen, dass es in Russland keine demokratischen und in der Ukraine keine nationalistischen Erzählungen gäbe. Trotzdem sind Trends zu beobachten, die auch für die sicherheitspolitische Debatte im Kontext von Europa/Ukraine/Russland relevant sind. Ein Beispiel aus der Ukraine ist die satirische Serie Diener des Volkes, die 2015 ausgestrahlt wurde und enorm populär war. Wolodymyr Selenskyj, im früheren Leben Schauspieler, spielt in genau dieser Serie einen Geschichtslehrer, der plötzlich Präsident wird und mit viel Humor versucht, ein korruptes Land unter dem Einfluss Russlands in eine Demokratie umzubauen. Vier Jahre später, im Mai 2019, wird Selensky zum Präsidenten der Ukraine gewählt. Fiktionen machen Realitäten denkbar und können nicht nur auf Wahrnehmungen und Deutungsrahmen, sondern auch auf Handlungsmotivationen Einfluss nehmen. Ein Beispiel aus Russland ist der 2006 erschienene Roman Das Dritte Imperium des früheren Duma-Politikers und Nationalisten Michail Jurjew. Er zeigt die Welt im Jahr 2053 aus der Sicht eines Soziologen, der nach Russland kommt, um dort die europäische Geschichte zu studieren. Dieser beschreibt, wie in der Westukraine heimlich der Eintritt der Ukraine in die Nato vorbereitet wurde, wie die Regionen Krim, Donezk und Lugansk sich per Referendum von der Ukraine lossagten, wie die Ukraine die Nato um Hilfe bat und diese Truppen in die Westukraine schickte, während Moskau tausende Soldaten auf den Weg brachte. Am Ende umfasst das „russische Imperium“ neben Westeuropa auch Grönland und die Staatssprache ist Russisch.
Schon der Kosovo-Serbien-Krieg zeichnete sich publizistisch ab
Es gibt kaum geospezifisch und lokalpolitisch differenziertere Szenarioanalysen in Bezug auf Krisen-, Gewalt-, Kriegspotenziale als literarische Fiktionen aus den jeweiligen Ländern. Auch die Institutionen von Literatur geben Aufschluss über die Denkrichtungen in einem Land. So hat sich z.B. im Vorfeld des Kosovo-Serbien-Kriegs der Serbische Schriftstellerverband ab 1981 über die Frage gestritten, wie die Nationszugehörigkeit von SchriftstellerInnen insgesamt festzustellen sei (Geburtsort oder literarische Tradition), um dann ab 1986 nicht-serbische Autoren aus dem Verband auszuschließen. 1998 brach der Krieg aus. Literaturmonitoring muss deswegen neben den Erzählungen selbst auch die literarische Infrastruktur (Verlage, Zensur, Preise/Förderung bestimmter Narrative), Akteure (Schriftstellerverbände/Literaturinstitutionen) und den jeweiligen Buchmarkt erfassen.
Anders als Twittertrends, können Trends aus dem Bereich der Literatur schon Jahre vor sichtbaren Veränderungen auf mentale Veränderungen in einer Gesellschaft hinweisen. Sprache, Begriffe, Narrative, Fiktionen sind der Baustoff demokratischer, autokratischer und selbst terroristischer Strukturen. In Algerien und Tunesien ließen sich 2014/15 beispielsweise unterschiedliche Narrative über den radikalen Islam finden und während sich aus Algerien nur rund 200 Personen dem IS anschlossen, waren es in Tunesien rund 7.000. Zu wissen, wo welche Fiktionen und Zukunftsnarrative existieren und wo sich Krisen- oder Gewaltpotenziale aufbauen, ist wertvoll für jeden Nachrichtendienst.
Literatur kann so einen wichtigen Beitrag zur sicherheitspolitischen Gesamtschau leisten. Gleichzeitig kann mit diesem Wissen Einfluss genommen werden, beispielsweise im Bereich der strategischen Kommunikation, durch Förderungen, Stipendien und NGOs. Dies gilt positiv, wie negativ. Die Aussage des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeiers über die reichhaltige russische Kultur, hat für viel internationale Irritation gesorgt – die gleiche Aussage vom Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes wäre künftig begrüßenswert.
Eine gemeinsame Analyse von Isabelle Holz, M.A. (wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund MOTRA) und Dr. Christian Hübenthal, Gründer und Herausgeber Lagebild Sicherheit.
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