Exklusiv: Rezensionen zu aktuellen sicherheitspolitischen Publikationen

Sicherheit im Ausnahmezustand:
Wie belastbar sind Alltag, Gesellschaft und Staat im Ernstfall?

KW 40 // Rezension zu Ferdinand Gehringer & Johannes Steger, 2025: Deutschland im Ernstfall – Was passiert, wenn wir angegriffen werden. Hoffmann und Campe, Hamburg.

Russische Drohnen dringen wiederholt in NATO-Luftraum ein, ein russisches Kriegsschiff wird vor Dänemark gesichtet. Was wie eine Abfolge von Provokationen wirkt, macht deutlich, dass Fragen der Sicherheit längst keine abstrakte Größe mehr sind. Die Gefahr ist real, sie berührt den Alltag europäischer Staaten. In diese Atmosphäre der Unsicherheit fügt sich Deutschland im Ernstfall ein. Das Buch rückt jene Fragen in den Mittelpunkt, die in einer eskalierenden Lage entscheidend sein werden: Was bedeutet ein Spannungsfall für Deutschland konkret und wie gestaltet sich der Übergang zum Verteidigungsfall? Was passiert, wenn wir angegriffen werden? Inwiefern tangiert dies den Alltag des Einzelnen?

Perspektivwechsel

Das Buch nimmt eine interessante, jedoch nur selten gewählte Perspektive ein – es betrachtet die Auswirkungen einer kritischen Sicherheitslage auf den einzelnen Bundesbürger. Während viele sicherheitspolitische Analysen die großen geopolitischen Linien betonen, richtet es den Blick nach innen – auf den Einzelnen ebenso wie auf die Verwaltung und die Belastbarkeit zentraler Infrastrukturen. Im Zentrum steht zunächst der Spannungsfall – die verfassungsrechtlich definierte Vorstufe, welche die Handlungsspielräume des Staates bereits erheblich verändert. Über weite Strecken prägt dieser Spannungsfall die Argumentation. Erst im späteren Verlauf wird der Übergang zum Verteidigungsfall skizziert, was die Dimensionen noch deutlicher macht. Damit gelingt den Autoren ein Perspektivwechsel. Sie zeigen, dass Sicherheitspolitik nicht nur Bündnisse und Rüstungsetats betrifft, sondern ebenso Verwaltungsroutinen, staatliche Strukturen und alltägliche Abläufe.

Vom Szenario zum Alltag

Die Argumentationsmethodik folgt einem stringenten Muster: Zunächst wird ein Szenario entwickelt, das Deutschland mit einer eskalierenden Sicherheitslage konfrontiert. Auf dieser Grundlage erläutern die Autoren zentrale Begriffe wie „Spannungsfall“, „Zivilschutz“ oder „hybride Bedrohung“ und ordnen sie juristisch wie politisch ein. Aus dieser analytischen Ebene leiten sie konkrete Alltagsfragen ab. Kapitelüberschriften wie „Kann ich noch mit der Bahn fahren?“ oder „Wie erkenne ich Desinformationen?“ illustrieren, dass bereits der Spannungsfall nicht nur Kanzleramt und Generalstab betrifft, sondern den Alltag jedes Einzelnen. Die Methodik – Szenario, Fachbegriffe, Alltagsbezug – macht das Buch systematisch und zugleich anschaulich.

Die Entscheidung, abstrakte Prozesse in alltägliche Fragen zu übersetzen, erweist sich als fruchtbar. Versorgung, Kommunikation, Transport – die Funktionsfähigkeit dieser Bereiche ist im Ernstfall entscheidend. Indem das Buch diese Dimensionen beleuchtet, wird deutlich, dass Resilienz nicht nur von Institutionen abhängt, sondern auch von der Fähigkeit der Gesellschaft, handlungsfähig zu bleiben. Der Ansatz unterscheidet sich damit von vielen anderen sicherheitspolitischen Publikationen. Er zeigt, dass die Bewährungsprobe einer Gesellschaft im Ernstfall nicht ausschließlich in militärischer Schlagkraft liegt, sondern ebenso in der Stabilität der zivilen Infrastruktur. Gesamtverteidigung ist also der Leitgedanke.

Sprachliche Klarheit als Beitrag zur Resilienz

Die Sprache des Buches ist präzise und zugleich zugänglich. Fachbegriffe werden erläutert, ohne sie zu trivialisieren. Die direkte Leseransprache unterstreicht den Anspruch, ein breites Publikum zu erreichen – vom interessierten Laien bis zum sicherheitspolitischen Fachmann. Die Lesbarkeit ist somit Teil des Konzepts. Eine resiliente Gesellschaft setzt voraus, dass ihre Mitglieder verstehen, welche Herausforderungen im Ernstfall entstehen können. Indem das Buch die komplexe Materie in nachvollziehbare Sprache übersetzt, trägt es selbst zur Stärkung dieser Resilienz bei.

Lehren für den Ernstfall

Im Schlusskapitel „Ein Tag in der Zukunft“ bündeln die Autoren ihre Überlegungen. Sie zeigen auf, welche Vorkehrungen notwendig sind und welche Schwachstellen im bestehenden System existieren. Der Abschnitt bleibt vergleichsweise knapp; er deutet eher an, als dass er umfassend entwickelt. Ziel ist es offenbar, die wichtigsten Linien zu markieren, nicht einen detaillierten Maßnahmenkatalog vorzulegen. Gerade diese Schwerpunktlegung macht es zugänglich für eine breite Leserschaft.

Die Originalität des Buches wird besonders deutlich im Vergleich mit anderen aktuellen Publikationen. Beispielsweise analysiert Carlo Masala in seinem Buch Wenn Russland gewinnt: Ein Szenario (2025) die geopolitische Dimension eines russischen Angriffs auf das Baltikum. Deutschland im Ernstfall ergänzt diesen Blick, indem es die innenpolitische Perspektive behandelt. Beide Werke zusammen ergeben ein umfassendes Bild: Sicherheitspolitik spielt sich zugleich auf der internationalen Bühne und im Inneren der Gesellschaft ab. In einer Zeit, in der russische Provokationen an der Ostgrenze der NATO zunehmen und hybride Bedrohungen den öffentlichen Diskurs bestimmen, gewinnt eben dieser umfassende Blick an Bedeutung. Sicherheit ist mehr als Abschreckung – sie reicht bis in die Frage, ob Informationen verlässlich bleiben, Versorgung funktioniert und Institutionen belastbar sind.

Ergebnis

Deutschland im Ernstfall bietet eine klare und eindringliche Analyse der sicherheitspolitischen Lage im Inneren und für den Einzelnen. Es verlässt die Ebene abstrakter Bedrohungen und übersetzt sie in konkreten Szenarien. Das Buch zeigt, dass bereits der Spannungsfall keine juristische Randnotiz ist, sondern konkrete Konsequenzen für Gesellschaft und Alltag hat. Der Übergang zum Verteidigungsfall wird nicht theoretisch, sondern als reale Möglichkeit beschrieben. Wer verstehen will, wie Deutschland im Inneren auf eine eskalierende Sicherheitslage vorbereitet ist, findet hier eine fundierte, verständliche und hochaktuelle Darstellung. Deutschland im Ernstfall rückt jene Dimensionen ins Licht, die in der Debatte oft übersehen werden – und ist damit ein unverzichtbarer Beitrag zur sicherheitspolitischen Selbstvergewisserung.

Der Verfasser: Alexander Gerhardt, M.Litt. (Strategic Studies, St. Andrews) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Redaktion von Lagebild Sicherheit. Er promoviert am Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt bei Prof. Dr. Sönke Neitzel. Alexander Gerhardt ist Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD).


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