Warum Russland Desinformation gegen den Westen einsetzt.
Schwerpunkt-Analyse // Desinformation als geopolitisches Machtmittel
Im Schwerpunkt widmet sich Lagebild Sicherheit den Themen, welche besondere Aufmerksamkeit verdienen. Nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskriegs, sondern seit der Annexion der Krim im März 2014 reintensiviert Russland eine Strategie, auf die man sich schon im Kalten Krieg verlassen hat: Desinformation. Russland streut Falschnachrichten. Welches Motiv steckt genau dahinter?
Von Julia Ruhs, M.A., Journalistin beim Bayerischen Rundfunk und Dr. Christian Hübenthal, Herausgeber Lagebild Sicherheit.
In der russischen Außenpolitik hat das Streuen von Falschinformationen und Propaganda eine lange Tradition. Es war eine Strategie des Kalten Krieges, die nach dem Zerfall der bipolaren Weltordnung für einige Jahre Geschichte war. Doch seit der Annexion der Krim im März 2014 setzt Russland wieder verstärkt auf Desinformation, auch gegen westliche Staaten.
Einmischung mit Bots, Trollen und staatstreuen russischen Medien
Prominente Beispiele für Russlands Agitation: Die russische Einmischung in die US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2016, das Brexit-Referendum 2016 oder die Fake-News-Kampagnen während der Corona-Pandemie. Falschnachrichten werden auf Online-Plattformen, durch staatliche russische Medien wie RT und Sputnik und durch automatisierte Bots und Trolle in den Sozialen Medien gestreut.
Dieses Verhalten Russlands ist erklärungsbedürftig. Denn Russland könnte es auch dabei belassen, regionale Konflikte in der nahen Umgebung zu unterstützen. Sich allerdings mit Desinformationskampagnen gegen den Westen zu richten bedeutet: Russland riskiert intensivere und direktere Konflikte mit westlichen Staaten und Organisationen.
Die Motive hinter Desinformation sind bisher kaum wissenschaftlich untersucht
Mit der russischen Desinformationspolitik und den Motiven dahinter beschäftigen sich bisher nur wenige Politikwissenschaftler. Die Masterarbeit, welche die Grundlage für diesen Beitrag ist, klärt systematisch über die Gründe auf. Als Erklär-Schablone dient dabei eine der Großtheorien der Internationalen Politik: Die Theorie des defensiven Neorealismus des Politikwissenschaftlers Kenneth Waltz, welche er in seinem Werk Theory of International Politics aus dem Jahr 1979 vorstellt. Eine Theorie, die vor allem verwendet wird, um den Kalten Krieg zu analysieren. Sie ist aber auch gut geeignet, um heutige Phänomene der Information und Desinformation zu erklären.
Streben nach Macht – für die eigene Sicherheit
Dem defensiven Neorealismus zufolge ist das internationale System grundsätzlich anarchisch. Kerninteresse eines jeden Staates ist das eigene Überleben zu sichern, deshalb streben sie nach Macht. Um diese zu erlangen, sind Machtmittel (Capabilities) entscheidend. Dazu zählen militärische und ökonomische Macht, aber nicht ausschließlich. Aus der Theorie ergibt sich, Russland benötigt ausreichend Capabilities, um seine Machtposition in der internationalen Politik zu wahren, bzw. wieder auszubauen. Oder umgekehrt betrachtet: Wenn die Capabilities Russlands nicht ausreichen, muss die Gegenseite schwächer werden, sodass Russland relativ gegenüber anderen internationalen Akteuren an Macht gewinnt oder zumindest den Capability Gap verkleinert.
Das unterschätzte Machtmittel: Die politische Stabilität
Waltz zählt in seinem Werk mehrere dieser Capabilities auf: die Bevölkerungsgröße, die Größe des Territoriums, die Ressourcen, die Wirtschaftskraft, die militärische Stärke. Doch neben diesen klassischen Machtmitteln spricht er noch eine andere Capability an: Die politische Stabilität. Dieses Machtmittel ist politikwissenschaftlich kaum beleuchtet und schwieriger zu messen, als beispielsweise ökonomische oder militärische Stärke.
Russland ist dem Westen bei klassischen Machtmitteln klar unterlegen
Lässt man die politische Stabilität zunächst außen vor und analysiert die klassischen Capabilities Russlands, fällt auf: Im Vergleich zum Westen und seinen Bündnissen ist Russland in jedem Feld stark unterlegen, vor allem den USA als mächtigsten westlichen Vertreter. Russlands Machtanspruch stützt sich vor allem auf seine Atomwaffen als ein Relikt des Kalten Krieges und den damit verbundenen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Russland ist den USA nur noch militärisch im Bereich der Nuklearwaffen international betrachtet ebenbürtig. Ansonsten hat das Land eine kleine, alternde, tendenziell abwandernde Bevölkerung, eine schwache Wirtschaft mit niedrigem BIP pro Kopf, welches selbst mit vielen einzelnen kleinen EU-Ländern nicht mithalten kann. Russland hat lediglich hohe Erdgas- und Erdölvorkommen, auf die auch der Westen stark angewiesen ist. Doch auch für Russland ergibt sich dadurch eine Abhängigkeit: Die des Ressourcenexports, denn das Land hat es nie geschafft, die Wertschöpfungskette von der Rohstoffgewinnung aus weiterzuentwickeln. Zudem ist das Land trotz seiner beachtlichen militärischen Mittel der NATO bei den konventionellen Waffen stark unterlegen. Egal welche Rüstungsanstrengungen unternommen würden – der Westen ist in seiner Gesamtheit überlegen. Der Ukraine-Krieg zeigt außerdem die strukturellen Schwächen des russischen Militärs. Ein Ausbau dieser klassischen Machtmittel ist wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage nicht ausreichend möglich.
Desinformation als neue Strategie des Machtausbaus
Deshalb gewinnt nun ein anderes Machtmittel an Relevanz: Das der politischen Stabilität. Die, so die These, soll mithilfe von Desinformation geschwächt werden. Für die Analyse wird die politische Stabilität mit dem Phänomen von Massendemonstrationen, Protesten und Unzufriedenheit der Bevölkerung in Verbindung gebracht. Denn Massenproteste gegen die Regierung sind ein wachsendes Phänomen in den vergangenen Jahren. Wenn sie mithilfe von Desinformation befeuert werden, können sie zur Gefahr für die Stabilität und Resilienz einer Gesellschaft werden. Russland betrachtet die Machtpolitik relativ: Kann das Land selbst nicht stärker werden, jedoch den Gegner schwächen, wird die Macht-Lücke kleiner.
So wurden in der Masterarbeit drei Fallstudien analysiert: die Präsidentschaftswahl in den USA 2016, das Brexit-Referendum im Jahr 2016, außerdem die Unterstützung rechtspopulistischer Bewegungen in Deutschland, im Zeitraum 2016/17. Herangezogen wurden dafür die wichtigsten US-amerikanischen, britischen und deutschen Untersuchungsberichte, die sich mit den russischen Einflussversuchen beschäftigen. Hier Auszüge aus der Analyse.
Russische Einmischung in den US-Wahlkampf 2016
Die Untersuchungsberichte des US-Wahlkampfs 2016 machen deutlich: Nahezu jedes soziale Netzwerk war von russischer Desinformation betroffen. Allein auf Facebook kamen schätzungsweise etwa 126 Millionen Amerikaner damit in Kontakt. Sogar Browser-Erweiterungen, Musik-Apps und Spiele wie Pokémon Go waren dem Einfluss der IRA, der russischen „Trollfabrik“ in St. Petersburg, ausgesetzt – ein noch nie da gewesenes Ausmaß. Auch vom Kreml finanzierte Medien waren Teil der Einflusskampagne, sie sollten „the other side of the story“ zeigen. Diese verzerrten Informationen hatten laut den Untersuchungsberichten das Ziel, „alternative“ Ansichten zu verstärken, um den gemeinsamen Diskussionsgrund einer Gesellschaft, welcher auf objektiven Fakten beruht, zu schmälern.
Vor allem in den USA stark umstrittene Themen wie Waffenbesitz und Polizeigewalt gegen Schwarze wurden von Russland instrumentalisiert. Manchmal wurden sogar beide Seiten angefacht, um politische Spannungen oder Gewalt zu erzeugen. Diese Schlussfolgerung ließ sich aus der Analyse von Facebookwerbung, Facebookseiten, Instagram-, Twitter- und YouTube-Inhalten ziehen. Die IRA-Trolle hätten den Auftrag gehabt, diese sozialen Spaltungen im Auge zu behalten und sich darauf zu stürzen, sobald ein Ereignis soziale Zwietracht hervorrufen sollte. Russlands Ziele dahinter laut Untersuchungen: Das Vertrauen in den demokratischen Prozess in den USA unterhöhlen, Polarisierung, politischen Protest und Unzufriedenheit befeuern.
Beeinflussung während des Brexit-Referendums 2016
Bei der Einmischung in das Brexit-Referendum kamen ebenfalls russische Bots und Trolle zum Einsatz. Staatliche russische Medien wie RT und Sputnik versuchten außerdem mit einer Übermacht von pro-Brexit und Anti-EU-Berichterstattung, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Auch wenn viele der offensichtlichen Unwahrheiten, die Russland streute, wohl nicht von vielen Menschen in den westlichen Gesellschaften geglaubt wurden, gebe es doch eine für Russland wünschenswerte Wirkung, konstatiert einer der Untersuchungsberichte: „They may still succeed in casting doubt on the true account of events: When people start to say ‘You don’t know what to believe’ or ‘They’re all as bad as each other’, the disinformers are winning.” Eine Strategie sei laut Untersuchungen außerdem das „Astroturfing“ gewesen, eine Propagandatechnik, bei der mithilfe der schieren Masse von Kommentaren und Posts von Bots und Trollen im Internet westlichen Politikern, Journalisten und anderen einflussreichen Personen vorgegaukelt wird, dass eine bestimmte Meinung (welche für Russland wünschenswert ist), die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung sei.
Anheizen rechtspopulistischer Bewegungen
Zwar sind Desinformationskampagnen sichtbarer, wenn es wie in den USA und Großbritannien um Wahlen und Referenden geht – jedoch beschränken sie sich nicht allein darauf. Russland hat auch dazu beigetragen, politische Stimmungen anzuheizen, wie beispielsweise rechtspopulistische Bewegungen in Europa. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Fall der angeblichen Entführung und Vergewaltigung der russischstämmigen „Lisa F.“ in Berlin durch Flüchtlinge im Jahr 2016. Diese unwahre Berichterstattung führte im Januar 2016 zu Protestkundgebungen in ganz Deutschland mit insgesamt mehr als 12.000 Teilnehmern. Der Fall zeigte die Macht von falschen Informationen. Sie können Demonstrationen triggern, Anti-Flüchtlings-Stimmungen anheizen und Minderheiten-Communities fruchtbaren Boden für Manipulation und gesellschaftliche Spaltung bieten.
Ein Zitat von Vladislav Surkov, einem Berater von Präsident Putin, bringt diese Strategie in einem Artikel, der in der Russian daily Nezavisimaya Gazeta 2019 veröffentlicht wurde, offen auf den Punkt: “Foreign politicians blame Russia for meddling in elections and referenda all over the planet. In fact, it’s even more serious than that: Russia is meddling in their brains and they don’t know what to do with their changed consciousness.”
Ziel: Verwirrung, Vertrauensverlust, Unsicherheit erzeugen
Die analysierten Quellen und Untersuchungsberichte zeigen insgesamt: Unzufriedenheit und Zweifel an westlichen Staatssystemen und Regierungen zu schüren, Gesellschaften zu polarisieren, Verwirrung zu stiften, Proteste anzuheizen – das scheint das Ziel von Russlands Desinformationspolitik zu sein. Vor allem stark umstrittene Themen innerhalb der Gesellschaft befeuerten russische Accounts in den sozialen Medien.
Die Erkenntnis der Arbeit also: Weil Russland in den klassischen Capabilities unterlegen ist, setzt das Land auf die Strategie, den Capability-Abstand relativ zu verringern, nicht durch eigenes Wachstum, sondern durch die Schädigung der Konkurrenz. Das tut es mit gezielt gestreuter Desinformation. Damit will Russland den Westen politisch destabilisieren und insgesamt schwächen.
Informationelle Beeinflussung wird wohl in Zukunft noch relevanter
Der Blick auf Desinformation und die politische Stabilität von Staaten wird in Zukunft sicherlich noch relevanter. Künstliche Intelligenz, „Deepfake“-Techniken, automatisierte Bots, Mikrotargeting (Streuung von passgenauen Inhalten für einzelne Internetnutzer), die zunehmende Nutzung sozialer Medien, das schwindende Vertrauen in den Journalismus etablierter Medien – all dies sind Einfallstore für Desinformation – eine Gefahr, die einen demokratischen Staat langsam von innen aushöhlen kann.
Dieser gemeinsame Beitrag ist auf Basis der Masterarbeit von Julia Ruhs entstanden, eingereicht am Lehrstuhl für Internationale Politik und transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg. Mit dieser Arbeit hat Julia Ruhs den Sonderpreis der Bayerischen Staatsregierung und den 1. Preis des Nachwuchspreises für Sicherheitspolitik des DialogForums Sicherheitspolitik gewonnen. Julia Ruhs arbeitet inzwischen als Journalistin beim Bayerischen Rundfunk.
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