Exklusiv: Die führenden Köpfe der Sicherheit im Interview

Kalenderwoche 42 // Forschung und Start-ups in der Zeitenwende

„Die Herausforderung ist nicht die Innovation an sich, sondern ihr Übergang in den operativen Raum.”

In Deutschland hat die Zeitenwende nicht nur die F&E-Abteilungen der etablierten Unternehmen neu belebt, sondern auch Start-Ups und sogar die Hochschulen, welche traditionell in Deutschland großen Abstand zu Streitkräften halten. Dr. Thorsten Lambertus ist Managing Director des Institute for Deep Tech Innovation an der ESMT Berlin. Er wird in den kommenden Tagen den ersten „Workstream Defence“ im Rahmen des Creative Destruction Lab eröffnen, einem internationalen Förderprogramm für Startup-Ups in der Phase zwischen Universität und Gründung. Der Zuschnitt förderte bisher insbesondere Gesundheits-, Nachhaltigkeits-, Klimaschutz- und Energie-Gründungen. Lagebild Sicherheit spricht exklusiv vorab mit Dr. Thorsten Lambertus über die Hintergründe, wie er auf militärische Forschung an Hochschulen blickt, die Bedarfe von Start-Ups und Unternehmen im Defense-Sektor und was ein Förderprogramm zwischen börsennotierten Konzernen der Sicherheitsindustrie und Gründern von der Uni leisten kann.

Dr. Thorsten Lambertus, Managing Director des Institute for Deep Tech Innovation an der ESMT Berlin

Creative Destruction Lab Berlin startet in dieser Woche seinen Defence Stream. Sehen wir die Zivilklausel gerade im Rückwärtsgang an den Hochschulen?

Wir stehen an einem Moment der Neuausrichtung. In der aktuellen geopolitischen Lage beobachten wir, dass viele Länder ihre Forschungsagenda stärker auf Sicherheit, Resilienz und Dual-Use ausrichten: etwa Technologien zur Überwachung, Cyberabwehr, autonomes Fahren, Robotik oder Raumfahrt. Staaten sehen, dass technologische Souveränität in kritischen Domänen existenziell ist. Insofern gibt es jetzt aktiven Druck, Innovationen mit sicherheitsrelevanten Potenzialen nicht auszuschließen, sondern zu fördern. Auch in Deutschland und in Europa breitet sich die Einsicht aus, dass wir Innovationen im Verteidigungssektor aktiv unterstützen müssen. Start-ups werden hier gemeinsam mit etablierten Unternehmen und den “Primes“ eine Schlüsselrolle spielen. Und viele dieser Start-ups werden sich neuer Technologien bedienen, um Lösungen für die Verteidigungsfähigkeit zu entwickeln. Genau darauf zielen wir mit dem „globalen“ CDL-Stream ab, der eine Kooperation mehrerer CDL-Standorte ist.

Mit unserem Engagement wollen wir auch aktiv dazu beitragen, eine neue Kultur in der deutschen Forschungslandschaft zu prägen. Eine Kultur, die verteidigungsrelevante Innovation und Technologietransfer gezielt vorantreibt und zugleich verantwortungsvoll mit den Dual-Use-Potenzialen neuer Technologien umgeht. Ob die Zivilklausel allgemein an Hochschulen auf dem Rückzug ist, ist meiner Ansicht nach aber heute nicht abschätzbar. Interessant ist dann allerdings stets der Fall von Dual Use.

Wonach suchen Sie in diesem Programm konkret?

Die DNA des CDL, wie auch des Institute for Deep Tech Innovation ist das, was wir heute „Deep Tech“ nennen. Also Innovationen, die auf neuen Technologien fußen und das breit interpretiert, von KI, über die Bandbreite der Ingenieurswissenschaften bis hin zu Life Sciences. Und aus diesem Pool werden wir bei der Selektion auch schöpfen. Dann schauen wir im Kern auf drei, eigentlich vier Dimensionen:

Erstens: technische Tiefe. Ein Start-up sollte eine technologische Substanz haben. Idealerweise liegt starkes, technologisches IP zugrunde, oder es ist zumindest eine Kernkompetenz vorhanden, die sich am Markt verteidigen lässt - egal ob durch einen speziellen Algorithmus, oder eine neue Formel aus der Materialwissenschaft.

Als zweiten Faktor braucht es den sogenannten „Mission Fit“ mit dem Verteidigungssektor. Wir suchen gezielt Start-ups, deren Technologie im sicherheitsrelevanten Bereich Sinn ergibt. Dabei bitte keine Ideen aus dem Elfenbeinturm, sondern Lösungen mit Weg zum Markt und einem Verständnis dafür, was im Verteidigungszusammenhang wirklich nachhaltigen Nutzen stiftet. Wir werden im Auswahlprozess genau darauf achten, in welcher Tiefe die Nutzer- und Kundenperspektive verstanden ist.

Dann schauen wir uns als dritten Faktor das Team an. Technologie ist das eine, aber entscheidend ist, wer dahintersteht. Wir brauchen Gründerinnen und Gründer mit Vision und Umsetzungskraft – Leute, die systemisch denken, die wissen, wie man integriert, wie man mit Kunden arbeitet. Und Leute, die einen Plan haben. Im Idealfall kommen Business, Technologie und militärischer Hintergrund zusammen.

Und zu guter Letzt: Pilotfähigkeit und Realitätsnähe. Uns überzeugen Start-ups, die nicht nur auf PowerPoint existieren, sondern schon was zeigen können – ein Prototyp, ein Testlauf, irgendwas Greifbares. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass wir hier über Frühphasen-Start-ups sprechen. Natürlich ist in diesem Stadium noch Nichts ausgereift und wir werden eine Umgebung kreieren, in der es Raum für Fehler und Weiterentwicklung gibt.

Woher kommen Ihre Fragestellungen – findet hierzu ein direkter Austausch mit Streitkräften statt?

Das Mandat des Programms besteht darin, die Entwicklung und den Einsatz von Dual-Use-Technologien weltweit zu beschleunigen. CDL Defence wurde auf Grundlage eines intensiven Austauschs mit Mentoren, Investoren, Wissenschaftlern und Industriepartnern im globalen CDL-Netzwerk entwickelt und orientiert sich an den aktuellen Prioritäten der NATO-Partnerländer. CDL nutzt dabei sein bewährtes globales Modell – ein strukturiertes, zielorientiertes neunmonatiges Mentoring-Programm, das bereits mehr als 2.700 Deep-Tech-Unternehmen in Bereichen wie Künstliche Intelligenz, Quanten­technologie, Raumfahrt, Cybersicherheit, Energie und Lebenswissenschaften unterstützt hat. Dieses Konzept wird nun auf den Bereich der Verteidigung ausgeweitet. Die Mentoren sind erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer, erfahrene Führungskräfte aus der Praxis sowie aktive Angel- und Venture-Investoren. Das Programm wird die spezifische Expertise des Verteidigungssektor einbringen und das Netzwerk bis rein in die Streitkräfte aufspannen. Zusätzlich werden drei spezielle Beschaffungs-Workshops durchgeführt, die Anbieter und Nachfrager zusammenbringen – also Endnutzer, die kritische Herausforderungen definieren, und Innovatoren, die passende Lösungen entwickeln. Das wird die Entwicklung zur Anwendung beschleunigen.

Krieg war historisch immer ein großer Innovationstreiber. Erleben wir diesen Effekt nun auch im Kontext der Digitalisierung und neuen Technologien – die sich ja schon im Frieden in sehr kurzen Zyklen entwickeln?

Es gibt ganz klar einen Innovationsschub durch die aktuelle sicherheitspolitische Lage. Wenn man ehrlich ist: Militär war historisch immer ein Extrem-Use-Case für Technologie. Wo die Bedingungen besonders hart sind, wo es um Leben, Zeit und Ressourcen geht, entstehen Lösungen, die später auch in den zivilen Bereich diffundieren. Das ist kein neues Phänomen – von GPS über das Internet, bis hin zu Halbleitern: Viele Grundlagen wurden in militärischen Programmen gelegt. Mariana Mazzucato nennt das den „unternehmerischen Staat“. Also öffentliche Investitionen in Hochrisikoforschung, die dann den privaten Sektor befeuern. Das Militär spielte in vielen technologischen Revolutionen eine zentrale Rolle in der Frühphase, wo sich Technologien noch beweisen müssen.

Heute sehen wir genau das wieder: bei KI, autonomen Systemen, Cyber, Energie oder Kommunikation. Die aktuellen Krisen wirken wie ein Stresstest, der technologische Reifeprozesse beschleunigt. Gleichzeitig bleibt das System selbst träge: Beschaffung, Bürokratie, Sicherheitsdenken – das hemmt die Geschwindigkeit. Kurz gesagt: Das Militär bleibt ein Katalysator – aber kein effizienter Markt. Innovation entsteht dort, wo sich Druck, Notwendigkeit und Offenheit für Neues überlappen.

Was ist besonders schwierig für Start-ups im Bereich Sicherheit oder Dual-Use?

Was junge Unternehmen stark macht, ist genau das, was vielen etablierten Playern fehlt: Geschwindigkeit und echte Innovation. Start-ups im Dual-Use- oder Sicherheitsbereich bringen oft radikale Ansätze – neue Sensorik, KI-basierte Datenfusion, Edge-Systeme, autonome Navigation – Technologien, die vielen etablierten Playern aktuell (noch) zu riskant erscheinen. Die Kehrseite: Stärke in Tempo und Innovation garantiert noch keinen erfolgreichen Technologietransfer und kein Geschäft im Verteidigungssektor. Viele Start-ups scheitern an der Schnittstelle zwischen Idee und Anwendung; der Weg vom Labor zur Einsatzfähigkeit ist brutal. Es gibt ein massives Finanzierungs- und Erfahrungsloch zwischen Prototyp und operativer Validierung – genau da, wo man zeigen müsste: „Das funktioniert im Feld.“ Gleichzeitig ist der Zugang zu realen Testumgebungen extrem schwierig. Ohne „Proof of Capability“ kauft kein Staat.

Dazu kommt die Komplexität der Integration. Eine brillante Sensorlösung nützt nichts, wenn sie nicht mit den Datenprotokollen oder Sicherheitsstandards der Streitkräfte kompatibel ist. Viele unterschätzen den Aufwand, ihre Technologie in bestehende Systeme einzubetten – technisch, organisatorisch, und kulturell. Und schließlich: Regulatorik und Beschaffung. Geheimschutz, Zertifizierung, Exportkontrolle – das ist ein Dschungel, der kaum einem Gründer vertraut ist. Selbst großartige Teams verlieren hier Zeit, Geld und Traktion. Kurz gesagt: Start-ups sind der Motor für neue Ideen – aber sie stoßen auf ein System, das nicht für Geschwindigkeit gebaut ist. Die Herausforderung ist nicht die Innovation an sich, sondern ihr Übergang in den operativen Raum.

Marktreife ist in der Sicherheit ein anderer Begriff als in der zivilen Welt, wo muss ein Start-Up stehen, um in der Sicherheit marktreif zu sein?

Im zivilen Umfeld reicht es ja häufig, ein Minimum Viable Product zu haben, also die einfachste funktionsfähige Version eines Produkts, ein paar erste Kunden, vielleicht Pilotumsätze – und schon gilt man als marktreif. In der Sicherheits- und Verteidigungswelt funktioniert das so natürlich nicht. Technologien müssen unter realistischen Bedingungen validiert werden. Wenn Sensoren im Staub, in Kälte oder unter Funkstörungen funktionieren, dann zählt das. Wir brauchen Sicherheitsfreigaben und Compliance. Ebenso entscheidend ist die Interoperabilität mit bestehenden Systemen. Niemand kauft eine Insellösung. Ein gutes Produkt ist eines, das sich in bestehende Kommandostrukturen oder Sensorverbünde integrieren lässt, mit klaren Schnittstellen, definierten Datenformaten und kontrollierter Zugriffsebene. Und dann kommt der Betrieb: Wer übernimmt Wartung, Updates, Ersatzteile – über Jahre hinweg? Die Streitkräfte, militärische Organisationen, oder Primes wollen keine Technologie, die nach einem Jahr ihr Support-Ende erreicht, sondern Partner, die den Lebenszyklus mitdenken. Am Ende geht’s auch um Glaubwürdigkeit: Wer schon einen Pilotkunden hat, einen Test mit einer Behörde oder einem sicherheitsrelevanten Nutzer – der hat den wichtigsten Schritt getan. Denn das reduziert Risiko für alle, die danach kommen.

Welche Fragen stellt ein Investor typischerweise einem Dual-Use-Start-Up, die sich in der zivilen Welt nicht stellen – abgesehen von der SiÜ?

Dual Use verändert die Perspektive der Kapitalgeber. Deshalb rechne ich auch mit Fragen, die in zivilen Cases so nicht vorkommen: Welches konkrete verteidigungsrelevante Problem wird gelöst? Was hat der Soldat davon? Wer im System hat das schon validiert? Und wie fügt sich die Lösung in bestehende Standards ein – etwa NATO-Interoperabilität? Dann können Themen aufkommen wie Regulatorik. Exportkontrolle, Umgang mit klassifizierten Daten, Sicherheitsfreigaben im Team – das sind Punkte, die für viele Gründer Neuland sein könnten, aber für Investoren wichtig. Genauso wichtig: Wie balanciere ich zivile und militärische Märkte, ohne mich in eine Sackgasse zu manövrieren? Ein zu enger Defence-Fokus kann die spätere Kommerzialisierung einer Dual-Use Technologie blockieren – das muss man strategisch planen.

Der Defence-VC-Markt hat sich rasant verändert: 2023 sind weltweit über 35 Milliarden Dollar in Defence-Tech und Dual-Use-Innovationen geflossen – fast viermal so viel wie 2020. Wenn man sich die Kapitalflüsse der letzten Jahre anschaut, sieht man ganz klar: In Europa entsteht gerade ein eigenständiges Defence-Tech-Ökosystem – und Deutschland spielt dabei eine überproportional starke Rolle. 2024 war ein Rekordjahr: Über 5 Milliarden US-Dollar sind europaweit in Defence-, Security- und Resilience-Tech geflossen – rund 30 Prozent mehr als im Vorjahr, obwohl der gesamte VC-Markt geschrumpft ist. Der reine Defence-Anteil liegt inzwischen bei knapp 2 Prozent des europäischen VC-Volumens – früher war das unter einem halben Prozent. Besonders aktiv sind München – mittlerweile der Defence-VC-Hotspot Europas – und Berlin. Inhaltlich konzentriert sich das Kapital auf einige klare Schwerpunkte: Künstliche Intelligenz und Autonomie – also Entscheidungsassistenz, sensorische Fusion, autonome Systeme. Dann Drohnen und Robotik, Cybersecurity und Cyber-Defense, aber auch Raumfahrttechnologien und ISR-Sensorik für Aufklärung und Kommunikation. Dazu kommen Quantentechnologien, neue Materialien und Energiesysteme als Dual-Use-Enabler.

Die Zahlen steigen, die Erfahrungskurven müssen nachziehen. Für Deutschland und Europa heißt das, dass wir erst wieder eine breite Riege an Defence-erfahrenen Playern im Start-up-Ökosystem aufbauen müssen, die VC-Landschaft miteingeschlossen. Da sind die Amerikaner natürlich sehr viel weiter. Umso spannender, dass wir den Stream in einem internationalen Netzwerk starten werden.

Was wäre in einem Jahr Ihr idealer Outcome aus dem Programm?

In einem Jahr möchte ich sehen, dass erste Start-ups aus unserem Defence-Stream echte Pilotprojekte mit Behörden oder Streitkräften gestartet haben. Feldtests, reale Einsatzszenarien – nicht im Labor, sondern draußen im Gelände, vielleicht sogar im NATO-Kontext. Ich möchte konkrete Technologiepartnerschaften sehen – Start-ups, die Module oder Komponenten in größere Systeme integrieren, oder Verträge mit Systemhäusern und Industriepartnern schließen. Wichtig ist auch, dass sich rund um das Programm ein stabiles Netzwerk bildet, bestehend aus Ministerien, Sicherheitsbehörden, Forschung und Industrie. Wenn dann noch einige Start-ups erfolgreich Kapital einsammeln, von Investoren, die Dual-Use wirklich verstehen, dann wäre das ein starkes Signal. Und natürlich: dass sich CDL-Berlin und DEEP als europäischer Hub für Verteidigungsinnovation sichtbar etabliert haben. Damit Technologietransfer in den Verteidigungssektor funktioniert, braucht es eine Brückenfunktion. Diese Rolle sind wir bereit zu übernehmen.

Das Interview führten für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal und Alexander Gerhardt.


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