Exklusiv: Die führenden Köpfe der Sicherheit im Interview

Kalenderwoche 37 // Militärische Perspektive

“Die Einsätze haben uns vieles gelehrt, was den Umgang mit Versehrten anbelangt.”

Generalleutnant Alfons Mais ist Inspekteur des Heeres. Traditionell trägt das Heer bei Einsätzen die Hauptlast an Toten, Verwundeten und Versehrten. Anlässlich der erstmals in Deutschland erstmals stattfindenden “Invictus Games”, ist Lagebild Sicherheit mit Alfons Mais ins Gespräch gegangen: Was bedeuten die Invictus Games, gerade mit Blick auf die Zeitenwende, für ihn? Wo sieht er in Deutschland Verbesserungsbedarf im Umgang mit Versehrung und welche Gedanken hat er sich ganz persönlich vor seinen Auslandseinsätzen gemacht?

Generalleutnant Alfons Mais ist Inspekteur des Heeres der Bundeswehr.

Die Invictus Games 2023 sind für Militärs ein echtes Großereignis. In der Vergangenheit beschränkte sich die Wahrnehmung jedoch meist auf diesen Kreis. Ihr ganz persönlicher Eindruck: Ist die Zeitenwende bereits in den Köpfen der Deutschen angekommen? Und gilt das in gleicher Weise für Politik und Medien?

In meinen Augen waren Krieg und seine Folgen für die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit seit 1990 eher ein historisches Thema als von tatsächlicher tagespolitischer Relevanz. Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich dies nun grundlegend geändert. Die schockierenden Bilder aus diesem Krieg gehen um die Welt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Meldungen zu russischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung oder zum Fortschritt der ukrainischen Gegenoffensive nicht Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung und des politischen Diskurses sind. Über die konkrete Ausgestaltung der Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik wird durchaus immer noch kontrovers debattiert.

In den grundsätzlichen Fragen jedoch, etwa der Unterstützung der Ukraine, gibt es aber einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Was es also heißt, von Krieg in Europa und damit der Zeitenwende zu sprechen, ist meiner Meinung nach durchaus im Bewusstsein der meisten Menschen in Deutschland angekommen. Ich denke, dass die Notwendigkeit, unsere Soldatinnen und Soldaten in ihrem Dienst für die Freiheit Deutschlands und ihrer Bündnispartner zu unterstützen, ebenfalls klarer gesehen wird. Dazu gehören im besonderen Maße auch unsere Versehrten und ich glaube, dass die Invictus Games 2023 in Düsseldorf dies unterstreichen. Ich bin sehr froh, dass dieser Wettbewerb erstmals in Deutschland stattfindet. Gerade im Hinblick auf die vielen versehrten ukrainischen Soldaten, die sich zum Teil auch in deutschen Krankenhäusern zur Behandlung aufhalten, ist es wichtig den negativen Bildern und Berichten etwas Hoffnungsvolles entgegenzusetzen. Getragen von großem öffentlichem Interesse wird sich Düsseldorf als Austragungsort mit Sicherheit als ein sehr guter Gastgeber und dem Motto der Spiele folgend als „A Home For Respect“ erweisen.

Die Amerikaner, Briten, Franzosen und Israelis haben ein ganz anderes Verhältnis zu ihren Versehrten. Welchen Teil einer dieser Kulturen würden Sie gerne aus dem Ausland nach Deutschland transferieren?

Ihre Beobachtung ist zunächst einmal nicht von der Hand zu weisen: Wie so vieles andere ist der Umgang mit den eigenen Veteranen über Jahrzehnte oder länger je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gewachsen. Somit sind diese Systeme eher schwierig zu vergleichen und kaum 1:1 zu übertragen. Bezogen auf die britischen Streitkräfte bilden natürlich die Invictus Games ein Leuchtfeuer im Umgang mit Versehrung. Ins Leben gerufen bekanntlich vom Herzog von Sussex, Prinz Harry, der die Spiele zurückblickend auf seine eigenen Erfahrungen als Soldat und die Bilder von Verwundeten vor Augen als Form der Anerkennung für versehrte Veteranen verstanden wissen wollte. Sie sind in meinen Augen ein einzigartiges internationales Sportevent.

Ich bin außerdem beeindruckt, wie die israelischen Streitkräfte mit ihren Versehrten umgehen und diese unabhängig ihrer Einschränkungen im Dienst integrieren. Jeder kann nach seinen Möglichkeiten weiter einen Beitrag zur Sicherheit und Verteidigung des eigenen Landes leisten. Im Rollstuhl sitzende Soldaten steuern dort Drohnen oder sind in der Flugabwehr tätig. Sie dienen somit nicht nur weiter ihrem Land, sondern dienen ihren Kameraden auch tagtäglich als ein Beispiel an Leidensfähigkeit, Mut und Einsatzwillen. Damit ist allen Seiten geholfen. Die versehrten Kameraden gehen einer Tätigkeit nach, die sie für sinnvoll halten, während alle anderen sehen können, dass eine Versehrung nicht das Ende ist. Ich würde mir wünschen, dass es in Deutschland verstärkt zu eigenen Initiativen aus der Öffentlichkeit kommt, die auf das Schicksal von Versehrten unserer Streitkräfte aufmerksam machen und die gesellschaftliche Inklusion aktiv vorantreiben. Aktuell finden aus aktuellem Anlass immer wieder Diskussionen um Fragen rund um die Bundeswehr statt. Im Hinblick auf Veteranen im Allgemeinen oder Versehrte im Speziellen sind solche Diskussionen natürlich wichtig, um diese Themen grundsätzlich im öffentlichen Diskurs zu halten. Dieser Diskurs entsteht aber zumeist aus „zufälligen“ Ereignissen; seien es Verwundungen durch Anschläge, harte Schicksale, die in den Medien aufgenommen werden, oder, so wie in diesem Jahr die Invictus Games in Deutschland. Das sollte uns als Gesellschaft meinem Erachten nach nicht reichen. Den Versehrten die gebührende Anerkennung für die dem Volk geleisteten Dienste zu zollen, ist grundsätzlich eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe.

Sie sind selbst im Einsatz gewesen und das Heer trug in der Vergangenheit häufig die Hauptlast bei den Einsätzen der Bundeswehr, ISAF, SFOR, etc. Wie haben Sie sich selbst und Angehörige darauf vorbereitet, dass zu jedem Einsatz das Risiko von Tod und Verwundung gehört?

Dazu möchte ich zunächst etwas sehr Grundsätzliches voranstellen: Verwundung und Tod sind Bestandteile des Soldatenberufs. Jeder Soldatin und jedem Soldaten ist das bewusst und wir gehen im Heer auch offen damit um. Sie finden es zum Beispiel als Thema im lebenskundlichen Unterricht, aber auch immer wieder in der Führerausbildung. Dass die Beschäftigung mit dem Thema in einem Krisen- oder Kriegsgebiet bzw. in Vorbereitung darauf deutlich an Bedeutung gewinnt, ist, glaube ich, eingängig. Allen Soldatinnen und Soldaten und, ganz wichtig, auch ihren Angehörigen ist das grundsätzlich klar, auch wenn die Gedanken dazu natürlich nicht den Alltag bestimmen.

Zu meinen eigenen Erfahrungen kann ich sagen, dass man auf das Thema früher einen anderen Blick hatte. Die Bundeswehr und das Deutsche Heer haben sich, seitdem ich zum ersten Mal 1999 bei der Stabilisation Force (SFOR) in Bosnien-Herzegowina im Einsatz war, in Aufklärung, Prävention und Nachsorge deutlich weiterentwickelt. Die notwendigen Veränderungen entstanden aber häufig erst durch schmerzliche Erfahrungen, vor allem durch die ersten Verwundeten und Versehrten. Hierbei mussten Prozesse geändert beziehungsweise eingeführt, Gesetze verabschiedet und umgesetzt werden. Als Ergebnis dieser Erfahrungen verfügt die Bundeswehr seit Jahren über ein zuverlässiges und engmaschiges Netz an Fürsorgemaßnahmen, das die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des Einsatzes für alle Beteiligten so gering wie möglich halten soll. Angefangen von speziellen Personalbögen, auf denen alle persönlichen Erreichbarkeiten erfasst werden, über die Einheiten selbst, die häufig gezielte Maßnahmen für Familienangehörige während der Einsatzzeit anbieten, bis hin zu unseren Familienbetreuungszentren und Militärgeistlichen, die in allen rechtlichen und emotionalen Themen äußerst versierte Ansprechpartner darstellen.

Mit der Fokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung stehen nun andere Szenarien im Mittelpunkt der Überlegungen. Sprechen wir als deutsche Gesellschaft über Kriegsbereitschaft, Bündnisverteidigung und Zivilschutz müssen auch Verwundung und Versehrtheit betrachtet werden. Dabei sind die Erfahrungen aus den Dekaden der Einsätze grundsätzlich hilfreich. Diese dürfen wir nicht ad hoc verdrängen, sondern müssen sie konsequent weiterentwickeln.

 Hat die Bundeswehr in der Vergangenheit die richtigen Lehren aus ihren Einsätzen gezogen, wenn es um den Umgang mit ihren Versehrten geht?

Das möchte ich deutlich bejahen. Die Einsätze haben uns vieles gelehrt, was den Umgang mit Versehrten anbelangt, insbesondere wurden uns immer wieder Mängel aufgezeigt. Eine ausreichende finanzielle und soziale Absicherung für im Einsatz oder im normalen Dienstbetrieb versehrte war nicht von Beginn an gegeben. Erst vor 15 Jahren trat das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz in Kraft. Damals blickte die Bundeswehr bereits auf eine ebenso große Zeitspanne an „Einsatzrealität“ zurück. Das Gesetz garantiert, dass Betroffene erst nach bis zu acht Jahren versetzt oder aus dem Dienst entlassen werden können. Bei weiterhin bestehender Schädigung besteht anschließend in allen Laufbahngruppen die Möglichkeit in den Status eines Berufssoldaten übernommen zu werden. Die bloße finanzielle Absicherung ist jedoch nicht mit sozialer Anerkennung gleichzusetzen. Dauerhaft und nachhaltig Versehrte sichtbar zu machen, ihnen für ihren Einsatz zu danken und ihnen gegenüber Respekt auszudrücken, ist für mich als Inspekteur des Heeres ein zentrales Anliegen und fürsorgliche Verpflichtung. Noch immer ist zu vielen Menschen, auch innerhalb des Heeres, nicht bekannt, welche Opfer viele unserer Kameraden gebracht haben und wie wichtig die Aufträge sind, die sie dessen ungeachtet in unserer Mitte erfüllen.

Kurz gesagt: Vieles ist für unsere Versehrten bereits erreicht worden - das soll aber nicht heißen, dass es keinen weiteren Raum für Verbesserung und Weiterentwicklung gäbe. Das fängt mit dem ganz grundsätzlichen Herstellen von mehr Sichtbarkeit an. Hier leisten die Invictus Games im Großen einen wichtigen Beitrag. Wir im Heer haben uns mit der Herausgabe unseres Buches „Über Leben – Versehrte im Heer. Zwischen Pflichtgefühl, Angst und Hoffnung“ im Kleinen ebenfalls auf den Weg gemacht unseren Beitrag weiterzuentwickeln. Wichtig bleibt außerdem alle, Verwundete und Versehrte, am Diskurs um Verbesserungen zu beteiligen und Ihnen zuzuhören.

Der Verteidigungsminister hat die Stationierung einer Brigade in Litauen in Aussicht gestellt. Wie bewerten Sie diese Absicht?

Die grundsätzliche Absicht ist formuliert. Wir planen jetzt, wie dies umzusetzen ist. Grundsätzlich sehe ich es so, dass mit der Entscheidung die momentanen sicherheitspolitischen Linien konsequent weiterentwickelt und auf die nächste Stufe gehoben werden. In Ihrer ersten Frage haben Sie die Zeitenwende angesprochen. Die Stationierung einer Brigade in Litauen ist ein deutliches Signal dafür, dass die Zeitenwende auch umgesetzt wird. Die Bundeswehr, und hier besonders das Heer, betritt dabei Neuland. In diversen Zuständigkeiten werden deshalb derzeit kreative Lösungen entwickelt, um den Auftrag, d.h. Abschreckung- und Verteidigungsfähigkeit im Bündnisrahmen umzusetzen. Der Fokus der Landes- und Bündnisverteidigung liegt, wie Sie wissen, bereits eine ganze Weile auf der Ostflanke der NATO. Die baltischen Staaten und für uns insbesondere Litauen füllen nun die Rolle, die Deutschland über 40 Jahre in der Verteidigungsplanung des Bündnisses zufiel: ein Stationierungs- und Übungsort zur Abschreckung eines äußeren Aggressors an der Außengrenze des Bündnisgebiets.

Herr General, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Zuvor publizierte Interviews im Lagebild Sicherheit

In regelmäßigen Abständen geben führende Köpfe der Sicherheitspolitik Lagebild Sicherheit exklusiv detaillierten Einblick in ihre Perspektiven auf die aktuellen Herausforderungen der Sicherheitspolitik. In diesem Archiv finden Sie zuvor geführte Interviews.

Kalenderwoche 36 // Wissenschaftliche Perspektive

“Die entscheidende Frage lautet: Ist Boris Pistorius ein mutiger Mann?”

Prof. Dr. Sönke Neitzel ist Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Militärgeschichte in Deutschland. Aus dem Blick in die Geschichte leitet er international gefragte Szenarien und Analysen ab. Lagebild Sicherheit hat mit ihm über die Zeitenwende gesprochen: Wie schätzt er den weiteren Verlauf des Krieges in der Ukraine ein? Welche Vergleiche zu früheren Konflikten erscheinen ihm sinnvoll? Steht uns nun eine Zäsur des Krieges durch Drohnen bevor? Wie muss sich die Bundeswehr verändern, um zukunftsfähig zu werden?

Prof. Dr. Sönke Neitzel, Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.

Herr Prof. Dr. Neitzel, nach der Wagner-Meuterei, dem mutmaßlichen Tod Prigoschins und den andauernden militärinternen Machtkämpfen in Russland sehen viele das Land als geschwächt. Doch bisher konnte die Ukraine den Sommer nicht nutzen, um die eigene Offensive zum Erfolg zu führen. Was ist Ihre Einschätzung?

Ich kann keineswegs erkennen, dass Russland implodiert und bald der Krieg vorbei ist. In den deutschen Kommentaren höre ich viel Wishful-Thinking. Ich meine aber, dass wir zu wenig zuverlässige Informationen über die Verhältnisse in Russland haben. Es wirkt aus westlicher Sicht so, dass die Wagner-Meuterei und die sonstigen Unruhen innerhalb des russischen Militärs den Eindruck vermitteln, Putin habe Russland nicht mehr im Griff. Von den Stimmen, die sich in Deutschland dahingehend äußern, sehe ich aber wenig Expertise bezüglich der Söldner-Gruppen, ihrer Rolle in Russland und im Zusammenspiel mit der russischen Armee. Und der gewaltsame Tod Prigoschins deutet nicht auf eine Schwächung Putins hin – im Gegenteil.

Was wir von hier jedoch alle klar sehen können, ist dass die Ukrainer von der Meuterei offenbar im Vorfeld nicht viel wussten. Das Militärkommando in Rostow war einen Tag lang außer Gefecht, die Ukrainer waren aber offenbar nicht in der Lage dies auszunutzen. Auch den Abzug der Gruppe Wagner aus Bachmut konnte man nicht ausnutzen und die Stadt zurückerobern. Momentan sehe ich an der Front keinen Einfluss auf diese diplomatisch ausgedrückt seltsamen Vorgänge und das ist am Ende entscheidend.

Aktuell befinden sich die Ukraine und Russland nach weit über einem Jahr Krieg in einer Art Patt-Situation. Können Sie sich erklären, warum der russischen Armee angesichts ihrer Größe und offensichtlich noch gegebenen Handlungsfähigkeit weder zu Beginn des Krieges noch in der Folge der Durchbruch gelungen ist?

Zunächst war der Krieg als Spezialoperation wie auf der Krim 2014 geplant. Spezialoperationen können schiefgehen. Wenn eine Operation auf Überraschung und Schockwirkung aufgebaut ist und diese ausbleibt, dann haben Sie ein Problem. Als Historiker ziehe ich den Vergleich etwa zu der deutschen Fallschirmjägeroperation auf Kreta im Zweiten Weltkrieg. Die Operation war ebenfalls auf Überraschung aufgebaut. Die dort stationierten Neuseeländer waren aber nicht überrascht, sondern vorbereitet. So wurde die Operation zum Desaster, auch wenn am Ende die Einnahme Kretas knapp gelang. Ganz offensichtlich wussten die Ukrainer auch gut Bescheid über die russischen Pläne und waren gut vorbereitet. Damit stand die ganze Anlage dieser Operation auf tönernen Füßen.

Es muss noch aufgearbeitet werden, wie nahe die Russen an einem Erfolg waren. Ich glaube aber, dass sie zu jeder Zeit weit davon entfernt waren. Die russische Führung hat außerdem 2022 nicht wahrhaben wollen, dass die Ukrainer, anders als 2014, kämpfen werden.

Sie zogen gerade bereits historische Parallelen. Der Ukraine-Krieg wird andauernd medial mit anderen Konflikten verglichen. Zunächst wurde der Zweite Weltkrieg ins Spiel gebracht, dann der Erste Weltkrieg, Vietnam, Afghanistan. Wie bewerten Sie als Historiker diese Vergleiche und welchen Vergleich würden Sie ziehen?

Geschichte wiederholt sich nicht. Dieser Krieg ist mit keinem identisch, aber es gibt in einzelnen Bereichen natürlich schon Parallelen. In historischer Perspektive sieht man meist eine Evolution of Military Affairs, keine Revolution of Military Affairs. Aus einzelnen Bestandteilen von Konflikten bildet sich etwas Neues. Die Rolle der Artillerie zum Beispiel ist ein Element des Ersten Weltkrieges, das bis in den aktuellen Konflikt weist, allerdings nun in Kombination mit Drohnen. Insofern sind viele dieser Vergleiche nicht falsch. Sie sind aber auch nicht unbedingt vollständig. Um Ihre Frage zu beantworten: Vieles in diesem Konflikt erinnert mich eher an den Konflikt Iran-Irak 1980 bis 1988.

Sie sprechen das Thema Drohnen an. Sind Drohnenkriegsführung, automatisierte Kriegsführung und unmanned Warfare nicht doch kleine Revolutionen des Krieges oder zumindest eine Zäsur?

Ich würde es eher als eine neue Dimension des Gefechts der verbundenen Waffen bezeichnen. Nun muss man die Dimensionen „Cyber“ und „Drohnen“ zu den bisherigen Dimensionen hinzudenken. Das volle Potential der neuen Wirksysteme sehen wir noch gar nicht. Dies ist übrigens nicht ungewöhnlich. Das Maschinengewehr haben die Franzosen schon 1870/71 eingeführt und der Artillerie zugeordnet. Es wirkungsvoll einzusetzen, hat bis zum Ersten Weltkrieg gedauert.

Gleichwohl nimmt die Geschwindigkeit, mit der neue Waffen eingesetzt werden exponentiell zu. Insofern finde ich Ihren Begriff der Zäsur besser. Drohnen sind erstmal eine Ergänzung und ja gar nicht mehr so neu. Schon der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien hat gezeigt, dass es ohne diese neue Ergänzung nicht mehr geht. Wir erleben nun, dass dieses Waffensystem zu Aktion und Reaktion führt. Die Ukrainer konnten mit Drohnen keine richtige Überlegenheit erreichen, weil die Russen ihrerseits schnell damit gearbeitet haben.

Die Deutschen haben um dieses Thema jahrelang sinnlose Pipi-Langstrumpf-Debatten geführt, weil die Welt nicht mehr so ist, wie sie uns gefällt. Insofern ist die Bundeswehr hier gerade mit ihren kleinen Drohnenbestand schlicht nicht kampffähig. Käme ein Einsatzbefehl, müsste man diesen eigentlich verweigern. Ich würde gerne Herrn Mützenich und andere im linken Spektrum der SPD einmal fragen, wie sie dazu stehen, die Bundeswehr durch ihre Verhinderungshaltung beim Thema Drohnen eigentlich kampfunfähig gemacht zu haben. Nun wird mit enormen Kosten versucht zu reparieren, was man in den letzten Jahren kaputt gemacht hat – ohne jedoch den Begriff „kriegsbereit“ zu nutzen.

Vielleicht haben wir den Begriff „Kriegsbereit“ durch „Zeitenwende“ ersetzt? Damit würde ich gerne zum zweiten größeren Komplex überleiten: Wer müsste Ihrer Ansicht nach der Zeitenwende Schubkraft verleihen und was müsste passieren?

Die entscheidende Frage lautet: Ist Boris Pistorius ein mutiger Mann? Er ist der beliebteste Politiker Deutschlands. Sicherlich bisher einer der besten Verteidigungsminister Deutschlands, eine Wohltat für die Bundeswehr. Doch am Ende wird er sich daran messen lassen müssen, ob er die Streitkräfte durch eine umfassende Reform wieder kampffähig gemacht hat. Dazu reicht es nicht, einen Führungsstab einzuführen. Und besser könnte die Zeit für eine echte und sinnvolle Reform doch gar nicht sein! Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Medien, die Semantik, all das hat sich verändert. Doch geredet wird viel, entscheidend wird die Tat sein.

Welche drei Dinge müsste er tun?

Das Ministerium, den Personal- und den Rüstungsbereich müsste er reformieren. Nun steht es mir nicht zu, konkrete Ratschläge für das operative Geschäft zu geben. Wir alle wissen aber: Die Zentralisierung der Bundeswehr hat sich nicht bewährt. Das würde bedeuten, wieder die Führungsstruktur von vor dem Dresdener Erlass 2012 zu nutzen: Die SKB auflösen, den zentralen Sanitätsdienst auflösen, die Inspekteure deutlich stärken und letztlich im Heer wieder Brigaden herstellen, die ausreichende Brigadetruppen mit Sanität, Logistik und Feldjägern haben. Die Marschrichtung ist im Eckpunktepapier von 2021 ja schon angedeutet.

Dann ist klar, dass die Bundeswehr ein Personalproblem hat. Wenn keine grundlegenden Schritte eingeleitet werden, ist zu befürchten, dass die Personalstärke in Richtung 150.000 absinkt. Das weiß jeder, aber gibt es den politischen Mut, auch entsprechende Maßnahmen einzuleiten? Man könnte ein Pflichtjahr einführen, jeden Jahrgang wieder mustern und lediglich die benötigte Zahl einziehen. Man könnte die Bundeswehr Ausländern öffnen oder auch ein Milizsystem einführen, in jedem Fall die Reserve aufstocken. Die Vorschläge liegen ja auf dem Tisch. Nun muss das Kabinett entscheiden, wie es das Problem lösen will.

Gleichzeitig muss der Wasserkopf verkleinert werden. Wir haben jetzt mehr Generäle als zu Zeiten des Kalten Krieges. Das sind doch abwegige Zustände. Helmut Schmidt hat 1969/70 mehr als 50 Generale in den Vorruhestand versetzt. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben hervorragende Generale und Stabsoffiziere. Aber es wäre vielleicht doch an der Zeit, mehr klare Personalentscheidungen zu treffen, die auch ein Signal in die Truppe senden.

Kommen wir zum Bereich der Rüstung: Auch hier gibt es Dysfunktionalitäten. Die Bundeswehr erreicht Dinge mit riesigem Arbeitsaufwand und wir verlieren zu viel Energie. Ich glaube nicht, dass es reicht, mehr Geld in das System zu geben und die Vizepräsidentin des BAAINBw zur Präsidentin zu ernennen. Auch hier muss der Minister mutig sein und Unebenheiten angehen, die die Streitkräfte schon seit dem frühen Kalten Krieg behindern, Stichwort Artikel 87 a und b Grundgesetz, 25 Mio.-Vorlagen, um nur die bekanntesten Punkte zu nennen. Bekannt ist aber auch, dass das cpm – das customer product management der Bundeswehr nur zu einer Überkomplexität des Beschaffungsprozesses führt, sich so nicht bewährt hat und erheblich gestrafft werden sollte.

Abschließend möchte ich noch etwas anmerken: Das Argument, im laufenden Betrieb könne man die Bundeswehr nicht reformieren, ist keines. Dann könnte sich der Staat ja niemals reformieren. Konzerne können sich schließlich auch reformieren. Hier wird ständig ausprobiert. Hat es sich bewährt, bleibt es. Hat es sich nicht bewährt, geht es. Über die Themen Verteidigungsministerium, Personalgewinnung und Rüstung wurde immer viel geredet. Das kennen wir aber alle schon, es ist höchste Zeit, dass Grundlegendes geschieht. Was es im Einzelnen ist, das liegt ganz in der Hand des Ministers. Aber es wäre sicher ein fatales Signal, wenn lediglich hier und da ein Referat zusammengelegt würde.

Das klingt so, als sei Ihrer Ansicht nach das Zwei-Prozent-Ziel, über welches viele aktuell diskutieren gar nicht das Hauptproblem?

Man sollte schon die kritische Frage stellen, ob es reicht, in eine dysfunktionale Organisation noch mehr Geld zu geben. Und die Bundeswehr ist dysfunktional, das ist offensichtlich. Die Zwei-Prozent vom BIP braucht die Bundeswehr, keine Frage. Aber in diesen Strukturen? Mit dieser Überbürokratisierung? Es gibt meines Erachtens eine Bringschuld des BMVg und der Bundeswehr. Sie müssen auch zeigen, dass sie in der Lage sind, schlanker und effizienter zu werden.

Kommen wir abschließend zu Ihrer Einschätzung der näheren Zukunft: Was wird Ihrer Ansicht nach im Winter in der Ukraine passieren?

Wir können nur in Szenarien und Wahrscheinlichkeiten denken. Demnach deutet alles darauf hin, dass der Abnutzungskrieg weiter geht. Einen operativen oder gar strategischen Durchbruch sehe ich nicht kommen. Ich wünschte mir, die Ukrainer könnten den Krieg gewinnen. Realistisch denke ich jedoch, dass wir Weihnachten die im Wesentlichen gleiche Front sehen werden.

Herr Prof. Dr. Neitzel, ich bedanke mich für Ihre Offenheit und das Gespräch.

Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Kalenderwoche 20 // Militärische Perspektive

“Zivil-Militärische Zusammenarbeit ist keine Einbahnstraße mehr.”

Am 26. September 2022 löste das Territoriale Führungskommando das bisherige Kommando Territoriale Aufgaben der Bundeswehr ab. Angesiedelt direkt unter dem Generalinspekteur der Bundeswehr, soll das Kommando künftig die zivil-militärische Zusammenarbeit verbessern. Notwendig wurde diese Umstrukturierung durch die Einsatzrealität. Überschwemmungen, Großbrände, und die COVID-19-Pandemie haben die Bundeswehr immer öfter zur Amtshilfe gegenüber den zivilen Organisationen gezwungen. Doch mit der Zeitenwende steht eine weitere Aufgabe für das TerrFüKdoBw an: Im Zweifel müssen große Nato-Verbände im Eiltempo durch Deutschland Richtung Osten verlegt werden können, durch die zivile Infrastruktur. Generalmajor Henne ist stellvertretender Befehlshaber des Kommandos und meldete nunmehr die volle Einsatzbereitschaft des Kommandos. Lagebild Sicherheit hat deshalb seine Perspektive erfragt, wo die aktuellen Herausforderungen liegen.

Generalmajor Andreas Henne, stellvertretender Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr.

Herr Generalmajor, Sie haben mit dem Territorialen Führungskommando kürzlich „Full Operational Capability“ gemeldet, das ging in kurzer Zeit. Am 15. Mai war der Übergabeapell. Was waren die großen Herausforderungen für Sie in der Aufstellung dieses Kommandos?

Die Herausforderung war definitiv, dieses Kommando im laufenden Betrieb und sehr schnell aufzustellen. Dies geschah unter Wahrnehmung der Aufgaben, welche ohnehin in Zukunft vermehrt auf die Bundeswehr zu kommen. Somit war es gar nicht so einfach, entsprechendes Personal in kurzer Zeit zu finden. Sicherlich entscheidend für den Erfolg dieses Vorhabens ist die Einsicht der Politik und der Leitung der Bundeswehr gewesen, die territorialen Aufgaben der Bundeswehr in einem Kommando zusammenzufassen und die Führung im Bereich territoriale Aufgaben direkt unter dem Generalinspekteur und aus einer Hand zu organisieren.

Sie sprachen von Unterstützung der Politik. Dieses Argument ist in der Aufstellung Ihres Kommandos durch russische Medien gegen Sie verwendet worden. Es hieß, die Politik mache sich nunmehr die Bundeswehr zu eigen, um sie zur auch gegen die eigene Bevölkerung im Inland einzusetzen.

Wir haben dies zur Kenntnis genommen und reaktiv reagiert. So haben wir beispielsweise die Fakten-Check-Teams von dpa, AFP und Correctiv mit Fakten und Hintergrundwissen versorgt. Das Thema ist inzwischen keines mehr. Als Bürger sage ich Ihnen meine Meinung aber auch privat: Diese Armee hat seit 1955 ununterbrochen bewiesen, Teil dieser Gesellschaft und Demokratie zu sein. Zuletzt hat man gesehen, wie wir in Corona Seite an Seite mit der Zivilgesellschaft geholfen haben. Daher halte ich diese Behauptungen von anderer Seite für geradezu lächerlich.

Wie gehen sie mit anderen Themen der Desinformation um? So wird behauptet, der ganze Ukraine-Krieg diene nur dem besseren Waffenverkauf der USA. Und derartige Propaganda richtet sich auch an Soldaten der Bundeswehr, um die Moral zu untergraben.

Die Antwort mag Ihnen simpel erscheinen, aber gegen diese Einflussnahme auf unsere Soldatinnen und Soldaten schützt uns das Konzept der Inneren Führung. Unsere Soldatinnen und Soldaten wissen, warum sie was tun. Sie verstehen Ihre Aufträge und sie verstehen was notwendig ist, um unsere Freiheit zu schützen. Aktuell bedeutet dies eben die Abgabe von Waffen in die Ukraine. Jeder Soldat versteht, dass es hier auch um die Freiheit in Europa geht. Übrigens ist die Bundeswehr-Akzeptanz aus meiner Sicht so groß wie nie, schon durch unsere zahlreichen und diversen Einsätze. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Wir haben in Friedrichshain-Kreuzberg während Corona Soldaten in den Bezirksämtern eingesetzt. Hier leben sicherlich viele Bürger, welche nicht als erste auf die Idee kommen, dass die Bundeswehr eine hervorragende Institution sei. Doch auch hier haben wir schnell Akzeptanz erfahren und die Einsicht, dass auch ein Soldat Bürger in Uniform ist.

Aber sind Sie der Ansicht, dass Sie dieses Vertrauen auch außerhalb von Amtshilfe haben? In Ihrem Beispiel sind Sie schließlich nicht in erster Linie als Armee aufgetreten.

Worauf ich hinaus will, ist Vertrauen. Nachdem, was die Menschen von der Bundeswehr im Inland gesehen haben, wird uns wohl niemand zutrauen, dass wir uns auf einmal gegen die eigene Bevölkerung richten würden. Ich bin auch verantwortlich für die Truppenübungsplätze und kann Ihnen sagen, dass wir hier insgesamt große Akzeptanz in der nahe wohnenden Bevölkerung erfahren. Natürlich ist unser Handeln laut und es gibt immer den einen oder anderen, der sich beschwert. Doch die Leute verstehen mehrheitlich, was wir dort tun und warum wir es tun müssen.

Ist die Reserve und deren nun wieder forcierter Ausbau aus ihrer Sicht eine Brücke in die Gesellschaft, wie es vielleicht mal die Wehrpflicht war?

Jedenfalls haben wir in der Reserve, beim CEO eines Chemie-Riesen angefangen, letztlich jede noch so kleine Berufsgruppe und Bevölkerungsgruppe vertreten. Ob das eine große Brücke in die Gesellschaft bildet, das weiß ich nicht, darauf möchte ich es aber auch nicht reduzieren. Durch unsere vielfältigen Einsätze ruhen wir inzwischen, was die Akzeptanz angeht, auf mehreren Säulen. Jetzt kommt noch hinzu, dass jeder in der Ukraine sehen kann, dass eine einsatzbereite Armee absolut notwendig ist, wenn man in Freiheit und Demokratie leben will.

Kommen wir zu den inhaltlichen Aufgaben: Das Territoriale Führungskommando soll die Interaktion der Bundeswehr mit den anderen Blaulicht-, Rettungs- und Katastrophenschutzorganisationen in Deutschland verbessern. Wo sind hier Ihre wichtigsten Herausforderungen?

Was wir definitiv bereits verbessert haben, sind die Kommunikationswege. Wir sprechen nun direkt mit den 16 Landeskommandos und dadurch direkt mit den Bundesländern. Das ist ein qualitativer Unterschied, den wir noch weiter ausbauen, um im Notfall schneller reagieren zu können.

Mit dem 24. Februar 2022 hat sich jedoch eine weitere Aufgabe ergeben. Früher haben wir meistens Amtshilfe für die Länder geleistet, zum Beispiel beim Hochwasser. Jetzt haben wir aber eine neue Situation: Zivil-Militärische-Zusammenarbeit ist keine Einbahnstraße. Diesen Fall sehen wir jetzt ganz deutlich. Seit kurzem ist es so, dass wir viel häufiger aktiv auf die Länder zugehen und deren Kooperation erfragen müssen. Beispielsweise haben wir eine vollkommen neue Qualität unserer Drehscheiben-Funktion für den Aufmarsch von NATO-Kräften. Das ist ein Bereich, der in dieser Intensität vollkommen neu ist und durch uns koordiniert werden muss, durch die Landeskommandos und mit den Ländern.

Weiter haben wir eine neue Herausforderung beim Schutz Deutschlands. Im Zweifel müssen wir im Spannungs- oder Verteidigungsfall mit den 42 Heimatschutzkompanien kritische Infrastruktur schützen. Dies haben wir früher beim Kommando Territoriale Aufgaben und der Streitkräftebasis auch gemacht, nun allerdings auch in einer neuen Intensität.

Die Bundeswehr hat in den vergangenen Jahren in kaum gekanntem Ausmaß zivil- militärisch helfen müssen. Corona, Ahrtal-Flut, Waldbrände. Sind aus ihrer Sicht die Formate zur Kooperation mit den anderen Blaulichtorganisationen ausreichend oder wünschen sie sich neue Plattformen hierfür?

Insbesondere müssen wir die Formate, die wir haben weiter bedienen. Im Jahr 2017 haben wir eine bundesweite Anti Terror Übung gemacht. Es war das erste Mal, dass wir uns so in diesem Bereich bewegt haben. Dabei haben wir festgestellt, dass die Organisationen untereinander teils unterschiedliche Sprachen sprechen. Natürlich sprechen wir alle deutsch, aber für vieles haben wir als Bundeswehr andere Begriffe als beispielsweise die Landespolizei. Manchmal sind die Begriffe sogar gleich, bedeuten aber etwas Unterschiedliches im Einsatz. Daraus abgeleitet haben wir inzwischen in fast jedem Bundesland weitere Übungen mit den Landes-Polizeien abgehalten.

Naturkatastrophe und Krise, das können wir. Was wir aber festgestellt haben, ist dass die andere Richtung der Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit noch nicht ausreichend geübt ist. Der Marsch von sagen wir mal 1.000 Fahrzeugen durch einen Landkreis, das muss unbedingt geübt werden und hier werden wir künftig auch verstärkte Übungen abhalten. Hierfür gehen wir auf die Länder aktiv zu. Dies habe ich auch in aller Deutlichkeit auf dem Kreis- und Gemeindetag des Landes Brandenburg gesagt und bin ebenfalls auf positive Reaktionen gestoßen. Hierbei treffen wir auf großes Interesse der Länder, weil diese erkannt haben, dass sie sich sicherheitspolitisch robust aufstellen müssen.

Weiter sprechen wir im Rahmen der zivil-militärischen Vernetzung inzwischen auch auf weniger naheliegenden Veranstaltungen, beispielsweis auf Chirurgen-Kongressen. Denn wen benötigen wir denn in einem Notfall? Vermutlich müssten wir auf viel Chirurgen zurückgreifen.Hierzu müssen frühzeitig Gespräche mit zahlreichen Akteuren aus der Gesellschaft aufgenommen werden.

Sie sprechen von den zahlreichen Ansätzen der neuen Kommunikation. Haben Sie in der Vergangenheit Akzeptanz vermisst?

Dies muss man meiner Ansicht nach in der entsprechenden Zeit betrachten. Nach dem Mauerfall 1989 und der Wiedervereinigung, sprach man noch davon, dass Deutschland von Freunden umgeben sei. Vielleicht war die Friedensdividende auch tatsächlich notwendig in dieser Zeit. Jede militärische Entscheidung hat auch immer ein Preisschild. Dass aber unsere Freunde nicht von Freunden umgeben sind, hat man in dieser Zeit in der Tat ausgeblendet. Doch schon 2006 hat Russland in Georgien Land besetzt. Die Entwicklung Putins ist spätestens seit 2014 klar gewesen. Auch in den Think Tanks ist diese Entwicklung deutlich wahrgenommen worden. Warnungen hat es von dort gegeben. Die Bereitschaft der Sicherheitspolitik größeren Raum zu geben, war aber dennoch nicht da, einfach weil es noch keine existenzielle Bedrohung war. Mit dem 24. Februar 2022 hat der Bundeskanzler nun aber wichtige Schlüsse gezogen.

Herr Generalmajor, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Exklusiv: Die führenden Köpfe der Sicherheit im Interview

Kalenderwoche 17 // Militärische Perspektive

“Die Lücken für die Truppe sind deutlich größer als die rein numerischen Materialabgaben an die Ukraine.”

Im November 2022 hat die EU zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine die Aufsetzung der European Union Military Assistance Mission Ukraine (EUMAM) beschlossen. Kritiker von Waffenlieferungen hielten unter anderem dagegen, dass komplexe Systeme ohne Ausbildung für die Ukraine gar keinen hohen Wert hätten. Generalleutnant Andreas Marlow führt das Special Training Command (ST-C), welches die Antwort auf diese Kritik bildet. Sein Kommando bildet ukrainische Soldaten in Deutschland aus. Lagebild Sicherheit ist mit General Marlow ins Gespräch gegangen und hat nach den Erfolgen und Herausforderungen dieser öffentlich viel beachteten Mission gefragt.

Generalleutnant Andreas Marlow, Führer des Special Training Command im Rahmen der europäischen Unterstützung der Ukraine durch Ausbildung (EUMAM).

Herr General Marlow, im November 2022 hat die EU das Mission EUMAM UA beschlossen. Seitdem führen Sie das zur Mission gehörende Special Training Command (ST-C). Was genau umfasst der Auftrag Ihres Kommandos?

Die europäische Ausbildungsmission EUMAM UA hat im Wesentlichen vier Aufträge: Bedarfsdeckung, Koordination, Synchronisation und Standardisierung. Das ST-C und das Combined Arms Training Command [Anm. d. Red.: CAT-C], das zweite Standbein der Mission in Polen, teilen sich die Aufgaben. Das ST-C ist für die Ausbildung in Deutschland zuständig, während das CAT-C die Ausbildung in anderen Ländern der Europäischen Union koordiniert. ST-C und CAT-C vergleichen gemeinsam die umfassenden Ausbildungsbedarfe der Ukraine mit den Ausbildungsmöglichkeiten, die durch die europäischen Partner angezeigt werden. Hiernach stellen wir fest, wo die Bedarfe gedeckt werden können und koordinieren die Ausbildung der ukrainischen Soldaten.

Den ukrainischen Streitkräften ist aus nachvollziehbaren Gründen daran gelegen, ihre Bedarfe schnellstmöglich zu decken, am besten alle sofort und gleichzeitig. Das überfordert jedoch die europäischen Möglichkeiten Kapazitäten. Einen Flaschenhals bildet darüber hinaus die Möglichkeit zur Aufnahme und Verteilung der ukrainischen Trainingsteilnehmer über Polen. Es ist daher entscheidend die Ausbildungen so zu synchronisieren, dass das System insgesamt ohne Reibungsverluste durchlaufen kann.

Mit zunehmender Standardisierung der Verfahren und Abläufe, auch zwischen den Partnernationen, konnten wir darüber hinaus unsere Effizienz deutlich steigern. In den vergangenen Monaten wurden sowohl Umfang als auch die Komplexität der Ausbildungen erhöht. Begonnen haben wir vor knapp einem Jahr mit den Ausbildungen an Einzelsystemen und von Spezialisten. Heute bilden wir zusätzlich auf den Ebenen Zug bis zur Brigade aus. Entsprechend verzeichnen wir auch einen Anstieg an Trainingsteilnehmern. 2022 wurden insgesamt rund 1100 Soldatinnen und Soldaten ausgebildet. Alleine im ersten Quartal dieses Jahres haben wir die Anzahl der Trainingsteilnehmer auf über 2.000 verdoppelt. Bis Ende des Jahres haben wir Kapazitäten für über 9.000 geschaffen.

Möglich ist das auch durch die Integration unserer multinationalen Partner sowie teilstreitkraftübergreifender Zusammenarbeit innerhalb der Bundeswehr. Alleine im Stab des ST-C dienen Kameradinnen und Kameraden aus 17 Nationen und aller Teilstreitkräfte. In der Ausbildung sind neben Deutschland sechs Nationen beteiligt; acht weitere haben Interesse angezeigt. Zusätzlich binden wir zunehmend die Ausbildungsmöglichkeiten der Industrie mit ein. Das Zusammenführen der Angebote der verschiedenen Akteure bringt einen deutlichen Mehrwert im Umfang, Qualität und Komplexität der ukrainischen Ausbildungsunterstützung.

Es gab in der öffentlichen Diskussion immer wieder Kontroversen darüber, ob einige Waffensysteme zu komplex für eine kurze Ausbildung seien. Was ist Ihre Ansicht dazu?

Ein ukrainischer Soldat der von uns vor kurzem am Kampfpanzer Leopard ausgebildet wurde sagte mir, dass es für ihn so wäre, als würde er einen alten Lada gegen einen Mercedes eintauschen. Der Vergleich ist treffend. An einem älteren Lada können Sie noch relativ einfach Reparaturen selbst durchführen, bei einem Mercedes geht das ohne eine entsprechende Ausbildung kaum. Dafür bringt der Mercedes natürlich viel mehr Leistung auf die Straße. Unsere westlichen Waffensysteme, vom Marder über den Leopard 2, die Panzerhaubitze 2000 zu den Flugabwehrsystemen Gepard und IRIS-T, sind komplexer, weil technisch höher entwickelt.

Solche Systeme bedingen eine gewisse Ausbildungszeit. Diese Ausbildung findet für die Ukrainer allerdings nicht unter normalen Rahmenbedingungen statt. Wir bilden mindestens sechs Tage die Woche, pro Tag meist 12 Stunden und mehr aus. So werden viele Ausbildungsstunden generiert. Das bindet natürlich verhältnismäßig viele Kräfte auf unserer Seite. Aber die Stunden werden erbracht und die Motivation der ukrainischen Soldatinnen und Soldaten ist extrem hoch, was den Lernprozess unterstützt. In der Summe werden in wenigen Tagen erforderliche Inhalte vermittelt, für die wir unter normalen Bedingungen mindestens doppelt so viel Zeit bräuchten. Somit entstehen hinreichend gut ausgebildete Kräfte, auch wenn man natürlich immer noch mehr machen könnte. Wir haben daher gemeinsam mit der Ukraine einen meiner Meinung nach vertretbaren und bewährten Mittelweg gefunden, bei dem sich die Ausbildung nur auf das im Gefecht absolut notwendige ausrichtet.

Wie können wir uns diese Ausbildung vorstellen und wo stehen Sie aktuell insbesondere mit Blick auf die viel diskutierte Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern?

Bei der Ausbildung am Leopard 2 sind wir unserem etablierten Model gefolgt. Begonnen haben wir mit der Ausbildung an den Kampfpanzern selbst. Wie funktioniert der Leopard? Wie wird er bedient? Durch die Beantwortung dieser Fragen werden die ukrainischen Soldaten zu Kommandanten, Kraftfahrern, Richt- und Ladeschützen ausgebildet. Anschließend übt die Panzerbesatzung gemeinsam im Simulator und abschließend im scharfen Schuss auf der Schießbahn. Den Abschluss bildet die gemeinsame Ausbildung von vier Kampfpanzern als Team. Bei den Panzergrenadieren auf Mardern gelang es im März die Ausbildung bis auf Verbandsebene, also als Bataillon, abzuschließen. Die deutschen Panzerlieferungen sind jetzt gemeinsam mit den daran ausgebildeten Soldaten in der Ukraine angekommen. Es sind jetzt ukrainische Panzer mit ukrainischen Teams. Ich bin zuversichtlich, dass diese einen wichtigen Beitrag zur Gesamtverteidigung der Ukraine leisten werden.

Wie bewerten Sie die Ausbildungserfolge? Wo ist die Ausbildung unerwartet schwierig, wo möglicherweise einfacher als Sie erwartet haben?

Die Ausbildungserfolge sind beeindruckend. Ursächlich dafür ist nicht zuletzt die hohe Motivation aller Beteiligten. Das trifft sowohl auf die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten, wie auf das internationale Ausbilderteam zu. Noch nach den anstrengenden und langen Ausbildungstagen lernen die Auszubildenden, mitunter bis spät in die Nacht hinein. Da ist oft ein unbändiger Lernwille vorhanden. Sie wissen halt, dass alles was sie lernen am Ende auf dem Gefechtsfeld den Unterschied ausmachen kann. Und auch unsere Ausbilder wissen das. Sie knien sich voll in die Ausbildung und nehmen dabei viele Entbehrung in ihrem privaten Umfeld, wie die mitunter lange Abwesenheit von ihren Familien in Kauf. Entsprechend gut sind auch die Ausbildungsergebnisse. Für mich hat sich wieder einmal bestätigt, dass am Ende der Mensch im Mittelpunkt steht. Großgerät, Panzer, sind wichtig. Ohne ausgebildetes Personal bleiben sie aber nutzlos. Es muss allerdings auch klar sein, dass eine sechswöchige Ausbildung, so intensiv diese auch ist, nicht die Routine und Erfahrung eines jahrelang auf dem Gefechtsfahrzeug ausgebildeten Soldaten erreichen wird.

Die sprachlichen Hürden zu überwinden stellt uns vor Herausforderungen. So galt und gilt es, qualifizierte Sprachmittler in ausreichender Anzahl zu finden. Wir müssen ja auch die Ausbildungsinhalte rüberbringen. Dafür brauchen wir Menschen, die die Sprache kennen und möglichste militärischen Sachverstand besitzen. Menschen die beide Anforderungen erfüllen, finden haben wir sehr selten. Ein weiteres Problem trifft die Sprachmittler besonders, jedoch auch alle anderen an der Ausbildung Beteiligten. Wir bilden Soldatinnen und Soldaten dafür aus, in einem jetzt stattfindenden Krieg zu kämpfen. Nicht alle, die wir ausbilden, werden diesen Krieg überleben. Trotz hoher Professionalität lassen die menschlichen Schicksale einen natürlich nicht unberührt. Hier müssen wir – auch in Zukunft – in der soldatischen Gemeinschaft und ebenso in der Zivilgesellschaft unsere Ausbilder bestmöglich vor den psychischen Folgen schützen.

 Die ukrainische Armee hat viel Kreativität und Eigeninitiative im vergangenen Jahr gezeigt, gerade im Umgang mit Drohnen und der dezentralen Steuerung von Artillerieangriffen. Kann Deutschland auch von der Ukraine lernen?

Natürlich lernen wir aus diesem Krieg. Wir beobachten sehr genau, wie die ukrainischen aber auch die russischen Soldaten kämpfen und dieser Krieg geführt wird. Für die Dimension Land haben wir dazu einen Prozess etabliert mit dem wir direkt Erkenntnisse aus diesem Krieg für die eigene Operationsführung gewinnen können. So bei der Ausrichtung der Fähigkeitsentwicklung, Ausbildung und Übung, Lehre sowie der Doktrin im Verantwortungsbereich der Dimension Land. Viele Erkenntnisse sind dabei weniger technisch ausgefeilt, sondern fordern mitunter eine Renaissance von alt Hergebrachtem. Ein Beispiel: Wir sehen in der Ukraine, dass Stellungsbau von großer Bedeutung ist, um Soldatinnen und Soldaten vor dem Steilfeuer der Artillerie zu schützen oder der Aufklärung durch Drohnen zu entziehen. In der derzeitigen Ausbildung fristet das Schanzen jedoch eher ein Schattendasein. Das muss sich ändern. Das ist aber nur eine von vielen bisherigen Feststellung, die durch Ausbildung und Sensibilisierung abgestellt werden können. Bei anderen Maßnahmen kann das alles wesentlich umfassender sein – zum Beispiel bei Rüstungsprojekten.

Auch wenn wir unsere Schlüsse heute aus dem Ukrainekrieg ziehen, bleibt es bei der Prämisse. Wir rüsten nicht für den Krieg der Gegenwart, sondern für den der Zukunft. Mittlere Kräfte, die Digitalisierung landbasierter Operationen, die Stärkung der Artillerie oder auch die Steigerung des Selbstschutzes gegen Drohnen sowie die eigene Nutzung von Drohnen werden das Deutsche Heer zukunftsfähig machen. Die Beobachtungen aus dem Ukrainekrieg stützen diesen Ansatz.

 Als Kommandeur für die militärische Grundorganisation des Heeres sind sie u.a. Verantwortlicher für die Ausbildung in der größten Teilstreitkraft der Bundeswehr. Kann die Bundeswehr ausreichend Ressourcen für so viel zusätzliche Ausbildung aufbringen?

Im Februar stellte der Bundesverteidigungsminister fest, dass Ausbildung eine besondere Stärke der Bundeswehr ist. Das kann ich nur unterstreichen. Unsere Ausbildungseinrichtungen und Schulen mit ihrem Personal spielen klar in der Champions League! – Die Kapazitäten aber auch endlich. Sowohl Material als auch Ausbildungskapazitäten, sind knappe Ressourcen die natürlich von Haus aus am eigentlichen Bedarf der Streitkräfte ausgerichtet sind. Derzeit sind bisweilen über 2.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr direkt oder mittelbar in der Ausbildungsunterstützung involviert. Das sind mehr, als derzeit Angehörige des Heeres in internationalen Einsätzen sind. Diese Kameradinnen und Kameraden mit ihrer Expertise fehlen uns natürlich in der Truppe. Auch die Belegung von Übungsplätzen oder das Abschöpfen von Ausbildungskapazitäten an den Schulen, wie zum Beispiel der Technischen Schule des Heeres, haben einen gewichtigen Einfluss. Zur Aufrechterhaltung unserer eigenen Leistungsfähigkeit als Landstreitkräfte ist daher von entscheidender Bedeutung unsere eigenen Bedarfe nicht aus den Augen zu verlieren. Der Fokus liegt dabei klar auf der Ausbildung unseres militärischen Führungsnachwuchses. Sie sind es, die die Stärke des Heeres von morgen maßgeblich ausmachen.

Neben den unmittelbaren Auswirkungen treten die Effekte aus den Materialabgaben. Die Abgaben von Panzerhaubitzen, Leopard 2 Kampfpanzern und auch der Schützenpanzer Marder, schränken unsere Fähigkeit zur Ausbildung ein. Es ist ja nicht so, dass das Großgerät der Bataillone nur auf dem Kasernenhof rumsteht. Die materielle Ausstattung ist Grundvoraussetzung für die Übungen unserer Verbände. Nur wenn die Soldatinnen und Soldaten auch regelmäßig mit dem Gerät üben können, wird der Ausbildungsstand der Verbände hoch bleiben. Darüber hinaus sind die Lücken für die Truppe deutlich größer als es die bloße Anzahl an Abgaben erscheinen lassen. Bei der Panzerhaubitze 2000 ist das sehr gut sichtbar.

Nummerisch haben wir 14 Panzerhaubitzen abgegeben. Gemessen am Bestand eine kleine Zahl. Für die Einsatzbereitschaft und somit für die Verfügbarkeit der Systeme in der Truppe, sieht das anders aus. Hier wirken sich die ebenfalls erfolgten Munitions- und Ersatzteilabgaben aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeiten negativ aus. Die Rechnung ist einfach. Wir haben weniger Systeme die jedoch einer höheren Nutzung bei steigendem Ausbildungsbedarf der Truppe unterliegen. Das führt zu erhöhtem Verschleiß, der wiederum in längeren Wartungszeiten resultiert. Einen ähnlichen Effekt, wenn auch nicht in dem Ausmaß, erwarten wir für die abgegebenen Leopard 2 Kampfpanzer und die Schützenpanzer Marder. Es ist immanent wichtig, dass wir das Material, wo sinnvoll, schnellstmöglich nachbeschaffen oder, wo möglich, adäquat ersetzen. Das Material muss für die Truppe zügig wieder verfügbar gemacht werden, wollen wir den Kern der deutschen Landstreitkräfte, die schweren Kräfte des Heeres, nicht nachhaltig in ihrer Leistungsbereitschaft schwächen. Mit Blick auf die Panzerhaubitze 2000 ist die Nachbeschaffung bereits durch das Parlament entschieden. Mit einer hoffentlich zeitnahen Entscheidung zur Beschaffung des 2. Loses des Schützenpanzer PUMA werden wir die abgegebenen Marder durch neue und moderne Schützenpanzer ersetzen.

Herr General, wir bedanken uns für Ihre Zeit und die Hintergründe zu Ihrerm Auftrag, welchen Sie den Leserinnen und Lesern von Lagebild Sicherheit erläutert haben.

Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Exklusiv: Die führenden Köpfe der Sicherheit im Interview

Kalenderwoche 13 // Wirtschaftsperspektive

“Wir sind eine wertebasierte Gesellschaft, das gilt es zu verteidigen.”

Die Zeitenwende wurde mit 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr angekündigt. Fachleuten aus Industrie und Militär war sofort klar, dass eine Einmal-Investition in die Sicherheit nicht ausreichend sein wird. Lagebild Sicherheit hat deshalb mit Dr. Jens Bodo Koch den CEO eines führenden deutschen Unternehmens der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie zum Gespräch getroffen, um seine Einschätzung zur Zeitenwende zu erfahren.

Dr. Jens B. Koch, CEO Heckler und Koch

Lagebild Sicherheit: Herr Dr. Koch, Sie haben gerade einen erheblichen Erfolg eingefahren, Sie werden auch in Zukunft das Standardgewehr der Bundeswehr liefern. Was bedeutet das für Sie?

Wir liefern damit in dritter Generation das Standardgewehr der Bundeswehr. Das HK416 ist ein seit 20 Jahren erprobtes und kontinuierlich weiter entwickeltes Gewehr, dass wir an über 50 Kunden in 22 Ländern liefern. Dass nun die gesamte Bundeswehr – wie bislang schon KSK und KSM - dieses Produkt als Standardsturmgewehr nutzt, ist ein toller Erfolg für uns. Als Unternehmen ist das eine Ehre für Heckler und Koch.

Kommen wir zur aktuellen Lage. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat viele in Deutschland aufgeschreckt. Auf einmal gibt es wieder unserer unmittelbaren Nähe Krieg zwischen Staaten. Haben wir zu lange in einer Traumwelt gelebt?

Es gibt drei Blöcke, über die man dabei sprechen kann. Erstens sehen wir nun, wie schützenswert Freiheit, Demokratie und Sicherheit sind oder wie fragil dieses wertvolle Konstrukt ist.

Wir haben uns in den letzten 30 Jahren, in denen weitgehend Frieden in Europa geherrscht hat, sicher gefühlt und der Sicherheit selbst keinen hohen Stellenwert mehr beigemessen.

Damit geht zweitens einher, dass bestimmte Readiness-Level und die Fähigkeit sich auf Krisen vorzubereiten, heruntergegangen sind. Auch in der Industrie sind gewisse Kernfähigkeiten verloren gegangen. Unter dem Stichwort Friedensdividende ist die Beauftragung heruntergefahren worden. Die oft genannte Kaltstartfähigkeit ist nämlich auch ein Thema der Industrie. Ein Unternehmen kann Investitionen nur tätigen, wenn es eine Planungssicherheit hat. Wir brauchen deshalb vor allem langfristige Rahmenverträge.

Drittens wurde politisch, gesellschaftlich und medial dem Thema Sicherheit zu wenig Wert beigemessen. Und damit ist auch die Wertschätzung von Sicherheitskräften heruntergegangen. Das bezieht sich nicht nur auf die Frauen und Männer, die in der Bundeswehr dienen. Leider ist auch die Akzeptanz der Polizeikräfte erodiert.

Das sind die drei Lehren, die man aus dem jetzigen Angriffskrieg auf die Ukraine ziehen muss. Wir müssen wieder lernen, Gefahren richtig einzuschätzen und dann auch adäquat reagieren.

Wurden politische Fehler gegenüber der Rüstungsindustrie gemacht?

Hinterher ist man immer schlauer. Wir sind die am stärksten regulierte Branche der Welt. Das ist auch richtig und gut so. Waffen gehören ausschließlich in die richtigen Hände, dann bieten sie Schutz. Sonst würde das Gesetz des Stärkeren gelten. Wir sind schließlich eine wertebasierte Gesellschaft. Das gilt es zu verteidigen.

Welche Rahmenbedingungen wünschen Sie sich jetzt?

Wir brauchen vor allem Verlässlichkeit, d.h. mehrjährige kontinuierliche Lieferungen sind besser als kurzfristige Sofortbedarfe. Die Kaltstartfähigkeit der Industrie ist immer eine Frage der Planbarkeit. Heckler und Koch war schon zu Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine gut vorbereitet, da wir bereits seit 2018 einen stetigen Wachstums- und Innovationskurs verfolgt haben. Getragen war dieses Wachstum allerdings vor allem durch Beschaffungen aus Ländern wie Lettland, Litauen und Norwegen. Da diese Länder näher am potenziellen Kriegsgebiet sind, haben sie früher ihre Sicherheitsausgaben hochgesetzt. Insofern können wir heute den weiterhin gestiegenen Bedarf produzieren. Langfristig sind Planbarkeit und Kontinuität wohl die wichtigsten Rahmenbedingungen.

Die Zeitenwende wurde insbesondere mit den 100 Mrd. für die Bundeswehr verknüpft. Was denken Sie – sind 100 Mrd. ein politischer Slogan oder die Basis einer wirklich neuen Zeit?

Zunächst einmal müssen große Systeme beschafft werden, Flugzeuge, Hubschrauber, Panzer, und Luftabwehrsysteme, wie wir jetzt sehen. Adressat der 100 Milliarden ist das Unternehmen Heckler und Koch nicht. Wir sind als Mittelständler im regulären Verteidigungshaushalt gut integrierbar. Derzeit rüsten wir die Bundeswehr mit dem neuen Maschinengewehr MG5 aus und nun auch noch mit dem neuen Standardsturmgewehr HK416. Wir sind als Ausrüster von Sicherheitskräften eingebettet in die Sicherheitsarchitektur Europas und der NATO. Die Zeitenwende ist aus unserer Sicht nicht nur eine monetäre Frage. Die Zeitenwende fängt im Kopf an.

Ist für Sie die Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels nunmehr unumgänglich? Dem standen faktisch vor allem politische Argumente entgegen.

Aus meiner Sicht ist die eigentliche Frage, welchen Bedarf Soldatinnen und Soldaten haben. Ich denke, es muss selbstverständlich sein, dass wir die Menschen bestmöglich ausstatten, die uns beschützen. Das müsste dann den Bedarf und das Budget festlegen. Zudem ist das Zwei-Prozent-Ziel, oder vielleicht sogar bald Drei-Prozent-Ziel, immer im Rahmen der Bündnistreue zu betrachten. Wie stehen wir gegenüber unseren Verbündeten da, wenn Deutschland seine Zusagen nicht einhält?

Eine Sache ist nun besonders wichtig in der Planung: Wir dürfen nicht in einen Schweinezyklus verfallen. Jetzt sind gerade alle aufgewacht und dann soll alles auf einmal beschafft werden. Wenn in ein paar Jahren die politische und gesellschaftliche Akzeptanz anders sein sollte, dann muss wieder gespart werden. Sicherheit ist aber kein kurzfristiges Gut, sondern eine langfristige Verpflichtung. Sind die notwendigen Kapazitäten langfristig gut geplant, können diese natürlich auch immer bei besonderem Bedarf hochfahren werden. Schwieriger ist es aber, wenn es ein ständiges Auf- und Ab gibt.

Nicht nur im Osten Europas brechen neue Zeiten an. Auch in Asien sortieren sich gerade viele Staaten an die Seite der USA oder Chinas. Was ist Ihre Einschätzung dazu?

Auch in Asien verfolgen Länder geopolitische, strategische Ziele. Heckler und Koch beliefert im Rahmen seiner Grünen-Länder-Strategie grundsätzlich nur Kunden in der EU, in Ländern der NATO, der NATO gleichgestellte Länder, sowie explizit von der Bundesregierung anerkannte Sicherheitspartner. Australien, Japan, Südkorea und Singapur zählen wir seit vielen Jahren zu unseren Kunden. Die Entscheidung über eine NATO-Gleichstellung ist eine politische Frage, die ich nicht beantworten kann und werde. Gut ist aber sicherlich, dass wir jetzt einen Vorschlag für ein Rüstungsexportkontrollgesetz haben, in dem Länder klar benannt sind. Das gibt einen verlässlichen Rahmen. Für die Sicherheitspartner Deutschlands bedeutet dies, dass sie sich ganz klar auf Deutschland verlassen können. Das ist für beide Seiten in Zukunft ein Vorteil.

Lagebild Sicherheit: Wir danken Ihnen für das Gespräch und ihre offenen Worte, Herr Dr. Koch.

Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Exklusiv: Die führenden Köpfe der Sicherheitspolitik im Interview

Kalenderwoche 05 // Verwaltungsperspektive

„Wir benötigen eine zentrale Koordinierung der Informationssicherheit im Land.

Die Bundesrepublik tut sich schwer mit der Digitalisierung des Staates und der Verwaltung. Dabei ist der Krieg in der Ukraine ein zusätzlicher Risikofaktor, schließlich ist die Verwaltung ein attraktives Ziel für Cyberangriffe. Unvergessen ist beispielsweise der Angriff auf die Verwaltung des Landkreises Anhalt-Bitterfeld, deren Auswirkung Bürger noch 2022 spürten. Lagebild Sicherheit möchte wissen, wo es aus Sicht des CIOs der Landesregierung NRW wirklich hakt und welche Reformen nötig sind, um schneller, besser und sicher zu digitalisieren

Prof. Dr. Andreas Meyer-Falcke (FDP),
CIO der Landesregierung NRW (Foto: Prosoz)

Sie sind zuständig für die Digitalisierung der Landesverwaltung in Nordrhein-Westfalen. Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen mit Bezug auf das Thema Sicherheit?

 Im Kern bedeutet digitale Verwaltung immer auch Vernetzung. Und hier beginnt die Herausforderung. Ein Beispiel: Für einen digitalen Behördengang benötigen Sie als Bürger lediglich ein Smartphone und Ihren Personalausweis. Aufseiten der Behörden aber benötigen Sie ein zentrales digitales Identitätsmanagement, Zugriff auf diverse digitale Register und die vollständige Kompatibilität verschiedener heterogener IT-Strukturen, die mitunter seit Jahrzehnten zum Teil völlig unabhängig voneinander gewachsen sind. Über alle diese Ebenen müssen Sie in jedem Schritt sicherstellen, dass die Informationen zu jeder Zeit vollständig sicher verarbeitet werden.

Erklären Sie uns bitte genauer, wo es an dieser Stelle hakt.

 Die Vision der digitalen Verwaltung ist klar: Unsere Kunden erhalten alle Verwaltungsdienstleistungen 24/7 an 365 Tagen im Jahr, medienbruchfrei und möglichst automatisiert. In der Realität des föderalen Systems ist eine mitunter komplexe Aufteilung von Zuständigkeiten gewachsen. Bund, Länder und Kommunen haben jeweils verschiedenartige Rechte und Pflichten. Innerhalb des Bundes und der Länder gilt zudem das Ressortprinzip und für die Kommunen das Recht auf Selbstverwaltung. Auf Basis meiner langjährigen Erfahrung in diversen Funktionen auf Kommunal- und Länderebene sage ich Ihnen deutlich: In diesen Kompetenz- und Zuständigkeitsfragen liegen unsere größten Herausforderungen. 

Damit haben wir ein Problem erkannt, was aber gesetzlich auch veränderbar wäre. So ist z.B. der Föderalismus zwar im Grundgesetz verankert, er könnte aber anders ausgestaltet werden. Halten Sie dies für notwendig und möglich?

Auch jenseits von Eingriffen in das föderale System gibt es Möglichkeiten, um Abhilfe zu schaffen: In Informationssicherheitsfragen existiert beispielsweise in beratender Funktion das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik. Im IT-Planungsrat haben wir uns geeinigt, die BSI-Grundschutzkonzepte verbindlich in Bund und Ländern umzusetzen.

Unsere bestehenden föderalen Strukturen sind darüber hinaus gut und sinnvoll. Sie müssen jedoch eng miteinander vernetzt werden. Nehmen Sie Nordrhein-Westfalen: Weder das Land noch alle seine 427 Städte, Gemeinden und Kreise müssen jedes Problem für sich alleine lösen. Und auch im Zusammenspiel der verschiedenen Ressorts ist übergreifende Vernetzung der Schlüssel zum Erfolg: Die Zuständigkeit für die IT der Landesverwaltung Nordrhein-Westfalen liegt beim CIO im Digitalministerium, die Fragen zur Informationssicherheit von kleinen und mittleren Unternehmen behandelt das Wirtschaftsministerium, die Zuständigkeit für Cybersicherheit hingegen liegt im Innenministerium. Nur weil wir diese Stellen in engem Austausch halten – sie also vernetzen – sind wir zugleich agil und handlungsfähig.

 Gibt es aus Ihrer Sicht dazu ein Best Practice? 

Das gibt es in der Tat. Wie beim Onlinezugangsgesetz, dem OZG, gilt das „Einer für Alle“-Prinzip auch bei der Informationssicherheit. Wir benötigen hierzu Standards und ein ganzheitliches Konzept. Wir als Land haben deshalb schon früh damit begonnen, die Expertise unseres renommierten Computer Emergency Response Teams, des CERT NRW, allen Kommunen in den für Sie relevanten Aspekten vollständig kostenfrei anzubieten.

Wir benötigen eine einzige zentrale Koordinierung der Informationstechnik und damit auch der Informationssicherheit im Land. Eine dezidierte Stabsstelle, die das bisherige Paradigma ablöst, dass jeder alles selbst aufbauen und betreiben muss. Daher haben wir als Land zusammen mit den Kommunalen Spitzenverbänden und dem Dachverband Kommunaler IT-Dienstleister vor etwa einem Jahr den Kommunalen Warn- und Informationsdienst (KWID) für Kommunen eingeführt. Dieser Dienst bedeutet eine signifikante Verbesserung der Cyber-Resilienz der Kommunen und schützt damit uns alle. Ungefähr die Hälfte der Kommunen in NRW nutzt mittlerweile unser Angebot. Wir arbeiten daran, alle Kommunen als Partner zu gewinnen.

2022 war das Jahr der Cyberangriffe auf die öffentliche Infrastruktur: Deutsche Bahn, Deutscher Bundestag, aber auch die Universitäten Düsseldorf und Duisburg-Essen waren betroffen. Wie kann man dem künftig effektiver entgegentreten? 

Eine zunehmende Digitalisierung aller Bereiche der Gesellschaft bedeutet immer auch eine zunehmende Angriffsfläche. Eingesetzte IT-Systeme müssen daher resilient sein und so gehärtet werden, dass eine Vielzahl von Angriffsvektoren blockiert wird - von nervendem Spam bis hin zum aus unterschiedlichsten Gründen motivierten Hacker. Ein Beispiel für erfolgreiche technische Intervention: Allein in Nordrhein-Westfalen werden pro Monat weit über 1,5 Mio. E-Mails im zentralen Mailsystem herausgefiltert. Diese E-Mails können keinen Schaden mehr anrichten und entlasten unsere Beschäftigten. Denn neben den rein technischen Maßnahmen müssen wir immer auch den Menschen als einen wesentlichen Faktor im Blick behalten: Die meisten Beschäftigten sind eben keine Experten für Informationssicherheit. Hier helfen nur verbessertes Onboarding sowie gezielte Kampagnen oder Trainings zur Verbesserung der Awareness. Wir legen besonderen Wert darauf, Kompetenzen durch didaktisch ausgefeilte Angebote zu fördern und dadurch die Berührungsängste zu verringern.

Cybersicherheit ist auch auf Landesebene kein Landesthema, sondern kann auch Gegenstand internationaler Konflikte werden. Was sind die ersten Lehren, welche Sie als CIO aus dem Ukrainekrieg ziehen?

Landesverteidigung ist eine Aufgabe des Bundes im Schulterschluss mit den übrigen NATO-Staaten. Die jüngsten internationalen Konflikte haben uns gelehrt, dass neben der konventionell-ballistischen Kriegsführung, die für sich betrachtet schon schrecklich genug ist, nun auch der digitale Weg als Angriffskanal aktiv genutzt wird. Deshalb ist unsere gesamte Gesellschaft potentielles Ziel von Cyberangriffen. Das gilt für jeden Einzelnen, unsere Unternehmen und Organisationen, alle Ebenen der Verwaltung und für die kritische Infrastruktur gleichermaßen.

Wie wollen Sie als CIO darauf antworten?

Wir bleiben weiter wachsam: Wir unterstützen dadurch, dass wir unsere Strukturen sicher halten, unsere Vernetzung in der Community gewinnbringend für andere einsetzen und über alle Ressortgrenzen hinweg schnell und einheitlich handeln.

Sehr geehrter Herr Meyer-Falcke, wir danken Ihnen für das Interview und Ihre Einschätzung der Lage.

Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Exklusiv: Die führenden Köpfe der Sicherheitspolitik im Interview

Kalenderwoche 35 // Innovationsperspektive

„Ja, wir haben Innovation verlernt”

Die Bundeswehr leidet unter dem Ruf, zu schwerfällig zu sein und die immer schneller werdenden Technologiezyklen nicht mehr adaptieren zu können. Sven Weizenegger ist als Leiter Cyber Innovation Hub der Bundeswehr (CIHBw) dafür verantwortlich, mehr Innovation und mehr Kooperation mit Start-ups und der Bundeswehr zu ermöglichen. Lagebild Sicherheit möchte wissen, wo es wirklich bei der Innovationskraft und dem Transfer von Innovationen in Bundeswehr hakt.

Sven Weizenegger, Leiter Cyber Innovation Hub der Bundeswehr

Herr Weizenegger, Sie argumentieren, dass die Bundeswehr lernen muss, innovativer zu werden. Welche Wege und Maßnahmen sind notwendig, um dieses Ziel in der Bundeswehr in einem absehbaren Zeitraum zu erreichen?

Ich glaube, die Bundeswehr hat im Jahr 2017 schon etwas für Innovation geleistet, indem sie den Cyber Innovation Hub der Bundeswehr gegründet hat, den ich seit Mitte 2020 leite. Das war eine mutige Entscheidung trotz vieler Unkenrufe. Die damalige Ministerin hat bewusst ein Schnellboot und keinen Tanker aufgesetzt. Und dieses Schnellboot ist nicht in der Organisation fest verankert, sondern muss ein Stück weit autark agieren.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Innovationen in bestehenden Systemen, insbesondere in Großorganisationen, zwar gewollt und gewünscht sind, aber nicht ohne Weiteres umgesetzt werden können. Denn letztendlich prallen immer verschiedene Systeme aufeinander und das Resultat ist dann eher Stillstand. Nicht ohne Grund lagern Unternehmen, wie etwa Volkswagen, Innovationsleistungen aus. Die Bundeswehr hat das mit dem Cyber Innovation Hub nachgeahmt. Unsere Aufgabe ist es, die richtigen Impulse in das System hineinzusetzen, damit Veränderung einen Anfang nimmt. Und das gelingt durch Leuchtturmprojekte, indem man sagt, es geht ja doch, man kann doch in drei Monaten etwas auf das Smartphone der Soldatinnen und Soldaten bringen. Und man braucht nicht unbedingt immer drei Jahre, um überhaupt erst mal die Anforderungen festzulegen.

Wenn man etwas schnell verändern will, dann braucht man eine charmante Penetranz. Ich muss damit zurechtkommen, manchmal der Stachel im System zu sein. Wichtig ist es, dann nicht die ganze Zeit den Oberlehrer zu spielen, sondern zu zeigen wie es geht. Ich bin davon überzeugt, dass man mit Innovation, Agilität oder Veränderung nicht auf der PowerPoint-Ebene stecken bleiben darf. Das bringt langfristig wenig. Man muss den Beweis antreten, dass Innovation möglich ist und das kann schon im Kleinen anfangen.

Was können wir im Umgang mit Start-ups für den militärischen Komplex lernen?

Ich habe ja selbst ein Start-up gegründet und da muss der Kunde immer im Fokus der Bemühungen stehen. Da braucht man Ehrlichkeit und Konsequenz, die manchmal weh tut. Denn wenn man ein Produkt entwickelt, das an den Kundenbedürfnissen orientiert ist, wird nicht gefragt, ob ich das als Gründer gut finde. Und manchmal findet man das selbst gar nicht gut. Aber ein Start-up, das das Ego des Gründers in den Fokus stellt, wird nicht erfolgreich sein.

Eine andere Lernerfahrung ist sicherlich, dass es sich lohnt zahlengetrieben vorzugehen.

Ein dritter Punkt ist Schnelligkeit. Denn ein Start-up kann nicht lamentieren und Ausreden erfinden wie „hier in Vertrag XYZ, da steht das und das und darum können wir es nicht sofort machen, sondern es dauert drei Jahre. Sorry.“ Das Start-up sagt „Vielen Dank. Wir sehen da noch weitere Potenziale. Und wir glauben, dass wir das, was sie uns als Feedback gegeben haben, auch für weitere Unternehmen und Kunden nutzen können.“ Dann wird es relativ schnell umgesetzt, mit einem agilen Organisationskonstrukt, ohne jetzt ein riesengroßes Pflichtenheft zu entwerfen.

Diese 3 Bereiche sind die wesentlichen Vorteile von Start-ups. Und am Ende des Tages braucht der Defense Sektor die Start-ups und nicht umgekehrt. Wir haben eher 80Prozent Use Cases aus dem zivilen Sektor, die im militärischen Kontext verwendet werden können. Natürlich gibt es spezielle Fälle, die nur im militärischen Kontext Sinn machen, aber ein großer Teil der Herausforderungen der Bundeswehr lassen sich mit Lösungen aus der zivilen Welt lösen. Und darum muss sich die Bundeswehr an Start-ups gewöhnen und nicht zwangsläufig umgekehrt.

Haben wir in Deutschland als Gesellschaft Innovation verlernt?

Ja, wir haben Innovation verlernt. Berücksichtigen wir Innovation in unserem alltäglichen Handeln? Definitiv nein. Und woran liegt das? Ein gewichtiger Grund ist sicherlich, dass wir keine Dringlichkeit empfinden etwas zu ändern. In Mitteleuropa geht es uns relativ gut, sogar sehr gut im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Ich war selbst oft in Israel und ich weiß noch, als ich das erste Mal in Tel Aviv gelandet bin. Da sieht man im Flugzeug eine Landkarte und dann versteht man erst richtig, dass Israel von Nachbarn umzingelt ist, die das Land auslöschen wollen. Und dann wird einem klar, wie sehr Israel und seine Einwohner Druck empfinden. Wenn an fast jeder Ecke jemand mit einer Maschinenpistole steht und das Land ums Überleben kämpft, ist allen klar, dass man schnell und effizient agieren muss.

Ich glaube, in Deutschland zerreden wir sehr viel, wenn es um Innovation geht. Wir sollten teilweise weniger reden und einfach mal probieren.

Aber wenn man das tut, beobachte ich Folgendes. Ich veröffentliche etwas auf Twitter oder auf LinkedIn, nachdem ich mich Monate mit etwas beschäftigt habe. Zwei Minuten später kommt das erste Feedback nach dem Motto „Was sie da machen kann ich viel besser!“ Natürlich kann ich auch etwas übersehen haben, aber sich dann einfach hinzustellen und zu sagen, das ist doof und habt ihr das und das und das und das bedacht, das tut der Diskussionskultur und uns Innovatoren nicht gut. Und ich behaupte mal 50 Prozent der Menschen mögen, was wir tun. 25 Prozent sagen „Na ja, ich warte ab, bis das Ergebnis da ist, und dann entscheide ich, ob ich es gut finde.“ Und 25 Prozent wissen es eh immer und zu jedem Zeitpunkt besser. Es ist sehr anstrengend, wenn man sieht, wie sich meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter intensiv mit Dingen auseinandersetzen und dann jemand um die Ecke kommt und behauptet, er habe einen Fehler gefunden und es öffentlich schlecht macht. Am Ende entsteht nur eine sehr nervige Diskussion.

Wollen wir als Gesellschaft wirklich so debattieren und handeln? Ich glaube, dass das langfristig nicht funktionieren wird, weil es mittlerweile zu sehr an den Kräften zehrt. Ich kann damit persönlich umgehen. Aber ich kenne viele, die auf endlose, überkritische Debatten keine Lust haben und sich dann ein Stück weit abschotten. Und das führt letztlich zu weniger Innovation. Denn ein innovatives Ökosystem funktioniert am besten, wenn die Menschen, die erfolgreich gegründet haben, hier weiterhin leben wollen und vor allem auch Impulse in das Ökosystem zurückgeben, indem sie vielleicht in neue Start-ups investieren und ihre Erfahrungen teilen.

Social Media spielt in Auseinandersetzungen, etwa im arabischen Frühling und jetzt im Ukrainekrieg, eine große Rolle. Gleichzeitig hat Social Media, besonders der amerikanischen Technologieunternehmen, bei europäischen Politikern einen schlechten Leumund. Ist Social Media Segen oder Fluch?

Für mich als Mensch, der Teil der Gesellschaft und ein soziales Wesen ist, ist Social Media natürlich ein Segen, weil ich dadurch neue Freunde kennengelernt habe und meine Gedanken teilen kann. Und natürlich hat Social Media auch ein Stück weit die Nachrichtenproduktion demokratisiert. Ich bin 1982 geboren. Als Jugendlicher hatte ich auf einmal Zugang zu Informationen, die ich vorher nie bekommen hätte und konnte mir ein eigenes Bild machen und auch Dinge hinterfragen. Und ich glaube, wenn Politikerinnen oder Politiker Angst vor Social Media haben, dann geht es bei manchen auch teilweise um Angst vor Macht- oder Kontrollverlust. Früher konnten nur Journalisten Fragen stellen und heute kann jeder mitreden. Da passiert auch viel Schindluder, aber am Ende des Tages ist Social Media für die Menschheit durchaus ein Segen. Aber man muss aufpassen, es nicht zu übertreiben und sich selbst auch ein Limit setzen. Ich schalte Social Media regelmäßig ab, um mich zu konzentrieren und zu arbeiten. Ich kann jetzt nicht jeden Tag alle fünf Minuten auf Twitter sein und Tweets absetzen, denn ich habe auch noch was zu tun.

Scheinbar scheitern in Deutschland digitale Innovationen in der Verwaltung oft am Datenschutz oder Sicherheitsrichtlinien. Können wir uns in Deutschland so viele Bedenken noch leisten, ohne im internationalen Vergleich zu weit zurückzufallen? Wo sehen Sie da die wichtigsten Barrieren?

Also das Interessante ist ja, dass die DSGVO den Datenschutz europaweit harmonisieren sollte. Ich bin der Meinung, dass die Diskussion in Deutschland besonders heftig geführt wird. Besser wäre es, die Diskussion auf einer völlig sachlichen Ebene zu führen. Ist Datenschutz per se das Problem? Nein, das sind die handelnden Menschen. Ich glaube, was man damals falsch gemacht hat, war nicht die richtigen Tools bereitzustellen und nicht schlüssig zu kommunizieren. Man hatte auch ein Stück weit das falsche Ziel. Man wollte den großen Techkonzernen aus den USA zeigen, wo es lang geht. Das hat ja nicht funktioniert. Denn Facebook als Großorganisation hat natürlich die Mittel und die Möglichkeiten sich schnell anzupassen. Was ich mir wünschen würde, wäre ein bedarfsgerechter und skalierender Datenschutz, der hier und da vielleicht Ausnahmeregelungen festlegt für Start-ups und den Mittelstand. Und dann das alles besser kommunizieren und das rechtssichere Rüstzeug bereitstellen. Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir nicht mit unseren Regeln hinterherhinken. Wir sehen es bei TikTok, wir sehen es bei Messenger Apps. Am Ende des Tages entscheidet die Funktion, die der Konsument haben will. Der Konsument möchte einfach eine Video-App mit Filtern benutzen und Videos an seine Freunde verteilen. Datenschutz steht da für ihn nicht im Vordergrund.

Erschwerend kommt hinzu, wenn ich als Manager mit einem Datenschutzbeauftragten spreche, dann bin ich diesem ein Stück weit ausgeliefert, weil er oder sie der Experte ist. Ich eben nicht. Und dann entsteht eine Diskussion, die derjenige, der sich nicht täglich mit Datenschutz beschäftigt, höchstwahrscheinlich verlieren wird. Und wenn der Datenschutzbeauftragte dann verinnerlicht, er sei der Gatekeeper, dann habe ich natürlich ein Problem. Gegen den werde ich nie ankommen können. Der wird seine vermeintlichen Risiken aufzählen und damit alles ersticken. Darum hat Datenschutz ein Imageproblem. Das Grundproblem könnte man lösen, wenn man mit guten Projekten vorangeht und sich das Mindset auf beiden Seiten ändert. Und nicht nur bei denen, die vermeintlich böse Dinge mit Daten tun wollen, sondern auch bei denen, die Daten schützen wollen.

Sehr geehrter Herr Weizenegger, wir danken Ihnen für das Interview und Ihre Einschätzung der Lage.

Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Prof. Dr. Christian Schultz


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Kalenderwoche 27 // Militärische Perspektive

„Ich habe es als meine Pflicht angesehen, die Dinge noch einmal auf den Punkt zu bringen!”

Generalleutnant Alfons Mais trägt als Inspekteur des Heeres die Verantwortung für über 60.000 Soldatinnen und Soldaten. In der Woche des russischen Angriffes auf die Ukraine erlangte er schlagartig Bekanntheit durch die „Blank-Aussage“, mit der er in aller Deutlichkeit auf die Ausstattungsdefizite der Bundeswehr hinwies – und Gehör bei Politik und Öffentlichkeit fand. Lagebild Sicherheit hat General Mais für ein Interview gewinnen können und gefragt, was er über die „Zeitenwende“ denkt, welche Lehren das Militär aus dem Ukraine-Krieg ziehen kann und welche Aufgaben der Bundeswehr künftig an der Ostflanke bevorstehen.

Generalleutnant Alfons Mais, Inspekteur des Heeres.

Mit Beginn des Krieges in der Ukraine erlangten Sie schlagartig Bekanntheit durch die „Blank-Aussage“. Damit haben Sie vermutlich die Worte „bedingt abwehrbereit“ abgelöst. Hat Sie die Resonanz auf einen LinkedIn-Post überrascht oder waren so klare Worte nötig?

Die Reaktion hat mich schon überrascht! Ich habe nicht mit dieser Verbreitung gerechnet, denn darauf war der Post nicht angelegt. Dazu hätte ich mir ein anderes Medium ausgesucht. Ich habe diese Bewertung unter dem doppelten Eindruck der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende davor und den Gesprächen mit vielen Soldatinnen und Soldaten an unserem „Tag der Werte“ am 23. Februar getroffen.

Nie habe ich die Verantwortung für die rund 60.000 Heeresangehörigen und ihre Auftragserfüllung mehr gespürt, als in dieser Woche. Wer es kommen sehen wollte, konnte es sehen, seit Jahren! Wir haben im Heer immer wieder intern auf die Lücke zwischen Ambition und Realität hingewiesen. Bereits seit 2014 hat es im Heer ein Umdenken und eine Re-Fokussierung in Richtung Landes- und Bündnisverteidigung gegeben. Was dafür erforderlich ist hat das Heer, habe ich persönlich immer deutlich kommuniziert. Klarheit und Wahrheit verlange ich von jeder und jedem im Heer! Der 24. Februar war dann leider für manche eine bittere Bestätigung und für andere eine böse Überraschung. Daher ist mein LinkedIn-Post in dieser Situation natürlich als sehr klar wahrgenommen worden. Aber nochmal, die Hinweise und Einschätzungen aus dem Heer gab es schon vorher. 

Und zu Ihrer zweiten Frage: Es war ein Beitrag, den ich bei aller Emotionalität, die wir alle an diesem Tag verspürt haben, bewusst gesetzt habe. Ich habe es als meine Pflicht angesehen, die Dinge noch einmal auf den Punkt zu bringen. In dem zahlreichen Feedback, dass ich auch aus der Truppe erhalten habe, wurde das mit großer Mehrheit auch so empfunden.

Die Aussage wurde in der Diskussion breit genutzt. Was genau haben Sie mit Ihrer Aussage gemeint? 

Die mandatierten Einsätze in Afghanistan, Mali und Irak, aber auch die neuen NATO-Aufgaben seit 2015 (z.B. die Battlegroup in Litauen) zeigen, dass das Heer mehr als gut in der Lage ist, mittel- und langfristige Aufträge sicher, kontinuierlich und planbar zu bestreiten. Darauf ist unsere heutige Struktur ausgelegt und sind unsere Prozesse optimiert. Ich bin sehr stolz und dankbar was unser Heer in diesen Aufträgen jeden Tag, rund um die Uhr unter schwierigsten Bedingungen leistet. Was wir bis auf wenige Ausnahmen aber komplett aus dem Auge verloren haben, ist eine durchgehende, breit angelegte Einsatzbereitschaft von Großverbänden aus dem Stand heraus, dann wenn es schnell gehen muss. Und genau so will ich die Aussage „blank“ verstanden wissen. Sie bezog sich in erster Linie auf unsere aktuell nur eingeschränkte Fähigkeit auf Großverbandsebene ad hoc aus der Kaserne in ein Krisengebiet zu verlegen und im Bedarfsfall das Gefecht der verbundenen Waffen nach kurzer Vorbereitungszeit aufnehmen zu können. Genau die Fähigkeit also, die nach den jüngsten Beschlüssen der NATO wieder dauerhaft von uns verlangt werden, um damit unseren Beitrag zur Abschreckung im Bündnis glaubhaft mit Kräften zu hinterlegen. Es geht um die Fähigkeit, in abgestuften Zeitfenstern Brigaden und Divisionen hochzufahren. Wir nennen das Kaltstartfähigkeit, für die wir kohäsive und einsatzbereite Brigaden und Divisionen des Heeres brauchen. Dazu waren wir am 24. Februar nicht in der Lage und das wird sich jetzt wieder ändern!

Der Krieg in der Ukraine ist ein sehr gut dokumentierter Konflikt. Welche Lehren über die russische Armee und deren Fähigkeiten leiten Sie aus dem Ukraine-Krieg ab?

Zunächst: Gut dokumentiert heißt nicht zwingend gut analysiert – wobei bei der Frage der Dokumentation nicht vergessen werden sollte, dass alle Kriegsparteien ein eigenes Interesse an ihrer Version der Geschehnisse haben.

Ich halte mich mit Urteilen sehr zurück, weil noch zu viel im Nebel des Krieges verborgen ist. Eines lässt sich meiner Ansicht nach jedoch fraglos feststellen: Landstreitkräfte sind der Gradmesser, an dem militärische Fähigkeiten, Erfolge und Misserfolge in Mitteleuropa auch zukünftig gemessen werden. Täglich geht es neben dem unsäglichen Leid, welches Putins Truppen über die Ukraine bringen, um die Gebietsgewinne und -verluste sowie der Kämpfe zu Land. Auch im 21. Jahrhundert wird die Entscheidung am Ende durch die Landstreitkräfte herbeigeführt. Das Heer operiert dort, wo die Menschen leben, inmitten der Bevölkerung. Dies wird uns jeden Tag mit all seinen fürchterlichen Konsequenzen vor Augen geführt. Einige Aspekte werden in diesem Krieg aber schon jetzt offensichtlich: Ohne belastbare Einsatzlogistik weit vorne geht nichts! Die Bedrohung durch Drohnen aus dem bodennahen Luftraum wächst kontinuierlich. Gleichzeitig ist die Nutzung der dritten Dimension – Luft – stark eingeschränkt! Wirkung, insbesondere Artillerie, ist ein dominierender Faktor. Führungs- und Kommunikationsfähigkeit haben eine „Multiplier“ – Funktion. Operationelle Flexibilität ist nur durch Dezentralisierung und Delegation von Entscheidungsverantwortung sicherzustellen. Auswerten, Lernen und Anpassen sind auch in einem laufenden Krieg notwendige Prozesse.

Das sind nicht unbedingt alles neue Punkte, aber für uns doch die ein oder andere Bestätigung bereits erkannter Lücken oder längst vorhandener Fähigkeiten. Wie gesagt, ich möchte mich noch nicht festlegen, bin mir aber sicher, dass die Beobachtungen, die wir derzeit aus dem militärischen Blickwinkel machen, nach ihrer tiefen und fundierten Analyse Einfluss auf das Denken und die Modernisierung im Heer haben werden.

 Mit der Zeitenwende scheint die Öffentlichkeit ihren Blick auf die Bundeswehr zu verändern. Bemerken Sie auch eine Veränderung der Stimmung im Heer?

Bei meinen vielen Besuchen und Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten im Heer fällt mir vor allem die ungeheure Professionalität und der Wille auf, sich auf die neuen Herausforderungen einzustellen. Ich spüre den Geist und die Haltung jeden Tag ein bisschen besser werden zu wollen. Es gibt eine Aufbruchsstimmung, einen Anpassungs- und Veränderungsdruck, der aus der Erkenntnis rührt, dass oben angesprochene Grunddefizit anzugehen. Und das nicht erst seit dem 24. Februar diesen Jahres, sondern schon weit vorher. Es fehlten aber für die Zielerreichung häufig die materiellen, personellen und auch strukturellen Voraussetzungen in den Einheiten und Verbänden des Heeres. Mit dem beschlossenen Sondervermögen von 100. Mrd Euro entstehen jetzt die Spielräume, die Lücke zur Vollausstattung mehr zu schließen. Strukturell haben wir eine Binnenoptimierung unserer Einsatzkräfte eingeleitet, um die Brigade-Verpflichtungen in Litauen und die Division für die NATO zu ermöglichen. Das wird uns alle im Heer stark fordern, jeden einzelnen, aber ich bin sicher, wir werden das gemeinsam hinbekommen.

Sie haben das 100 Mrd Sondervermögen Bundeswehr bereits angesprochen. Was außer Geld benötigt die Bundeswehr – das Heer – noch?

Geld allein ist nicht alles. Militärisch bekommt es erst dann einen Mehrwert, wenn wir es auch sinnvoll einsetzen. Im Falle des Heeres bedeutet das, dass am Ende einsatzbereite Brigaden und Divisionen stehen müssen, die über alle erforderlichen Fähigkeiten verfügen. Hier ist das Sondervermögen Bundeswehr ein wichtiger und unverzichtbarer erster Schritt. Doch der nun eingeschlagene Weg muss über eine langfristige und verlässliche Finanzierung im Verteidigungshaushalt auch weiter gegangen werden. Ein weiterer wichtiger Pfeiler ist die Struktur. Ich bin daher sehr dankbar, dass ich die Freigabe erhalten habe, unsere Binnenstruktur so anzupassen, dass wir das Prinzip „Organize as you fight“ wieder in den Vordergrund stellen können. Dabei geht es vor allem um drei Dinge: erstens die Verschlankung der Brigaden, damit diese agiler werden; zweitens die Reinvestition der Optimierungsgewinne in die Aufstellung von Divisionstruppen, damit diese Führungsebene auch faktisch wieder zu einer operationellen Rolle befähigt wird; und drittens eine bessere Balance zwischen der Kampftruppe und den erforderlichen Unterstützungskräften, damit wir das Heer in seiner gesamten Breite wieder einsatzfähiger machen.

Die neue Erfahrung für viele in der Truppe wird sein, dass es nicht wie in der jüngeren Vergangenheit um die Auflösung von Verbänden und Standorten geht, sondern an vielen Stellen um das genaue Gegenteil. Aber auch das wird Veränderung in der Truppe bedeuten, einhergehend mit Unsicherheit und Informationsbedarf, aber ich nehme wahr, dass die Notwendigkeit für diesen Schritt in der Truppe erkannt ist und mitgetragen wird. Dennoch: Information und Veränderungsmanagement werden „die“ Führungsaufgaben der nächsten Jahre.

Neben Material und Struktur sehe ich ergänzend die Notwendigkeit, sich auch unseren Personalkörper genauer anzuschauen. Hier müssen wir Wege finden, drohender Überalterung, bereits faktischer Kopflastigkeit und unflexiblen Werdegängen entgegen zu wirken, um uns für die notwendige Einsatzfähigkeit der Zukunft richtig aufzustellen. Hier schließe ich ausdrücklich das Thema Reserve mit ein. Ich würde mich freuen, wenn wir hierzu in eine noch intensivere Diskussion eintreten könnten.

Schweden, Finnland, Baltikum, – auf welche Szenarien stellt sich das Heer aktuell für die Zukunft ein?

Zunächst freue ich mich sehr, dass der Beitritt unserer Freunde in Schweden und Finnland nun tatsächlich Realität wird. Ein riesiger Schritt vorwärts in der gemeinsamen Verteidigung unserer Werte, den wir auf der Grundlage bereits seit langem bestehender Kooperationsbeziehungen auch zwischen unseren Heeren mit noch mehr Substanz füllen werden.

Im Schatten des russischen Krieges in der Ukraine liegt derzeit unser Fokus im Heer jedoch folgerichtig auf der NATO-Ostflanke und damit der Bedrohung unserer dortigen Verbündeten. Das Heer hat hier schnell reagiert: Wir leisten mit der „enhanced Forward Presence Battlegroup“ in Litauen, die wir nochmals verstärkt haben, den Beiträgen zum Multinationalen Korps Nordost und nun mit der „enhanched Vigilance Activity“ in der Slowakei, sichtbare und anerkannte Beiträge. Bis Ende 2024 werden wir mit der PzGrenBrig 37 den VJTF (L) Auftrag wahrnehmen. Darüber hinaus stellen wir uns, wie bereits angedeutet, darauf ein, eine aufwuchsfähige Brigade zusätzlich zu unserer eFP-Präsenz in Litauen bereitzustellen. Zudem werden wir für die NATO ab 2025 eine Division mit einem Divisionshauptquartier einschließlich Divisionstruppen und zweier mechanisierter deutscher Brigaden im Rahmen der veränderten NATO-Planungen zur Verfügung stellen.

Auch wenn der Schwerpunkt absehbar im Baltikum bei unseren Verbündeten liegen wird, heißt das nicht, dass wir unsere weiteren Aufgaben aus den Augen verlieren. Das Heer wird auch in Zukunft die Forderung zur permanenten Bereitstellung eines Evakuierungsverbandes für das Nationale Risiko- und Krisenvorsorge ebenso unverändert verlässlich erfüllen, wie wir unseren Einsatzverpflichtungen im Rahmen des Internationalen Krisenmanagement nachkommen werden. Was die unmittelbaren Auswirkungen der NATO-Erweiterung in Skandinavien angeht, ist es noch zu früh, um die Auswirkungen in Gänze abschätzen zu können. Dennoch ist davon auszugehen, dass wir in einem 360 Grad Ansatz auch immer Kräftedispositive an den Flanken der NATO werden einsetzen können müssen. In diesem Kontext weise ich gerne auch noch auf die anstehenden neuen Verpflichtungen im Rahmen des Strategischen Kompass der EU hin, die wir auf keinen Fall vernachlässigen dürfen.

Sehr geehrter Herr General Mais, wir danken Ihnen für das Interview und Ihre Einschätzung der Lage.


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Kalenderwoche 24 // Wissenschaftliche Perspektive

“Ich glaube, dass der Konflikt mit Russland noch lange andauern wird.”

Prof. Dr. Sönke Neitzel ist einer der führenden Militärhistoriker Deutschlands und Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. Im Lagebild Sicherheit gibt er uns seine Einschätzung der Lage: Wie lange wird der Konflikt dauern? Steht in der Ukraine ein Partisanenkrieg bevor? Welche Lösung kann es für diesen Konflikt überhaupt geben?

Prof. Dr. Sönke Neitzel, Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam.

Herr Prof. Dr. Neitzel, wie schätzen Sie den Erfolg des russischen Angriffs auf die Ukraine militärisch ein? Zu Beginn sah alles nach einem schnellen russischen Sieg aus. Welche Fehler haben die Russen begangen?

Die Russen haben den Widerstandwillen der Ukrainer unterschätzt, sie haben nicht erkannt, dass Kiew sehr gut über das Kommende informiert war und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen konnte. Als der Überraschungsangriff auf Kiew gescheitert war, haben die Russen große Probleme mit der Führung komplexer Großoperationen gehabt - und sie haben die Rechnung ohne das Wetter gemacht. Die Schlammperiode zwang die Panzer auf die Straßen, wo sie leicht anzugreifen waren.

Wird die russische Armee in der Lage sein, die momentan besetzten Gebiete zu halten?

Die ukrainische Armee ist meines Erachtens nicht in der Lage, die russischen Streitkräfte von ihrem Territorium zu vertreiben. Verteidigen ist das Eine, Gegenoffensiven das Andere. Die Ukrainer haben bislang mit hoher Moral gekämpft, sie haben unter Ausnutzung des Raumes den Vormarsch der Russen verzögert und dann weitergehend zum Stillstand gebracht. Nun ist der russische Generalstab weit mehr in die Operationsführung involviert, als noch Ende Februar/Anfang März. Die Kräfte werden auf einen engen Raum konzentriert, wo sie ihre Feuerkraft voll entfalten können. Der Krieg entwickelt sich zu einer Abnutzungsschlacht, bei der die Ukraine momentan am kürzeren Hebel sitzt, weil der Westen so langsam Waffen liefert. Meines Erachtens werden die russischen Streitkräfte auf absehbare Zeit die von ihnen eroberten Gebiete halten können. 

Werden die Ukrainer einen Partisanenkrieg beginnen?

Einzelne Anschläge gibt es ja schon. Ich rechne aber nicht mit einem großangelegten Partisanenkrieg. Dafür ist das Gelände zumeist auch zu ungünstig. 

Könnten die Ukrainer durch Partisanenkriegsführung  die besetzten Gebiete zurückgewinnen?

Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Die Ukraine ist nicht Afghanistan. Zudem wird die militärische Wirkung von Partisanenoperationen zumeist überschätzt. Man darf nicht vergessen, das eine Partisanenkriegführung fast immer zu enormen Opfern auf Seiten der Zivilbevölkerung führt. Verluste und Erfolge stehe meist nicht in einen vertretbaren Verhältnis zueinander. Es mag zivilen Ungehorsam geben, aber die Befreiung muss von außen kommen - sei es mit militärischen oder mit diplomatischen Mitteln.

Es wird von verschiedenen Kriegsverbrechen der russischen Armee - etwa aus Butscha - berichtet. Ist es historisch gesehen überhaupt realistisch, dass Kriegsparteien jemals einen "sauberen" Krieg führen werden?

Einen sauberen Krieg gibt es nicht, aber es gibt natürlich ein unterschiedliches Maß an Kriegsverbrechen. Die Frage ist also nicht ob Kriegsverbrechen geschehen, sondern wie häufig und in welchem Umfang. In der Ukraine sehen wir ein beachtliches Ausmaß an illegitimer Gewalt - was leider in den Kriegen Russlands der vergangenen 40 Jahre oft vorkam.

Wie lassen sich Genozide in modernen Konflikten verhindern?

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort, weil die Ursachen von Genoziden doch sehr unterschiedlich sind. Es spielt natürlich eine Rolle,wo genozidale Verbrechen stattfinden und wer die Akteure sind. In manchen Konfliktregionen, z.B. in Afrika, hat die Weltgemeinschaft die Möglichkeit über diplomatische und wirtschaftliche Hebel deeskalierend zu wirken. In anderen Fällen hilft nur die militärische Intervention - denken wir an Bosnien. Nach Ruanda und Srebrenica kam die Idee auf, dass es eine Responsibility to protect für die Weltgemeinschaft gibt. Doch es stellt sich die Frage, wer die Bereitschaft hat, dann auch zu intervenieren, wenn es zum Äußersten kommt. Deutschland, dass muss man deutlich sagen, war immer ein Riese beim Reden aber ein Zwerg, wenn es darum ging zu handeln. Da muss man nur auf den Syrienkonflikt schauen.

Welche Szenarien sehen Sie für den weiteren Fortgang des Konfliktes? Wird die Ukraine so instabil wie Afghanistan, Irak etc.?

Das glaube ich nicht. Die ukrainische Gesellschaft ist durch den russischen Angriff zusammengerückt, sie hat viel zivilgesellschaftliches Engagement gezeigt und Bereitschaft, für die gemeinsame Sache zu kämpfen. Der Krieg hat die Herausbildung einer ukrainischen Identität - und zwar unabhängig von der Muttersprache - erheblich gefördert. Die Lage ist also eine ganz andere als im Irak oder in Afghanistan. Ich glaube allerdings, dass der Konflikt mit Russland noch lange andauern wird und die entscheidende Frage ist, ob Kiew genug Unterstützung aus dem Westen erhält um dies auf lange Sicht durchzuhalten.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Neitzel, wir danken Ihnen für das Interview und Ihre Einschätzung der Lage.

Das Interview führten für Lagebild Sicherheit Prof. Dr. Christian Schultz und Dr. Christian Hübenthal


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Kalenderwoche 17 // Auslandsperspektive

“Die 100 Milliarden Euro sind ein politischer Slogan, die Institutionen müssen sich verändern.”

Mit Beginn der Ukraine-Krise und der Erkenntnis, dass Deutschland “blank da steht” (Zit. Gen. A. Mais), ist eine lange schwelende Debatte wieder aufgeflammt: Warum ist Verteidigungspolitik und Rüstung in Deutschland so schwerfällig, teuer und kompliziert?

Lagebild Sicherheit hat einen weltweit renommierten US-Experten für Beschaffung und Rüstung getroffen: Dr. James Hasik (MBA) ist Senior Research Fellow am Center for Government Contracting an der School of Business der George Mason University und Non-Resident Senior Fellow im Defense Technology Program am Center for European Policy Analysis. Zuvor war er Senior Fellow am Scowcroft Center for Strategy and Security des Atlantic Council. In den letzten sechzehn Jahren hat Hasik Unternehmen und Ministerien im Verteidigungsbereich in betriebswirtschaftlichen Beschaffungsfragen, Lieferkettensicherheit und in Fusionen beraten.

Er ist Autor zahlreicher Bücher, die sich mit ökonomischen Fragen der Verteidigung und Beschaffung auseinandersetzen.

Dr. James Hasik, MBA. Non-Resident Senior Fellow im Defense Technology Program am Center for European Policy Analysis

Herr Dr. Hasik, es freut uns, dass Sie zu einem Gespräch bereit sind. Wie wird in den USA die Haltung Deutschlands zum Krieg in der Ukraine und zu Russland im Allgemeinen wahrgenommen?

Es gibt zwei Bereiche, die für Experten in den USA schwer nachzuvollziehen sind. Erstens, die langjährige Regierung von Angela Merkel hatte eine völlig ungerechtfertigt positive Sicht auf das, was in bilateralen oder multilateralen Beziehungen zu Russland erreicht werden könnte. Die Annahme schien zu sein, dass Putin sich gelegentlich ungezogen verhalten würde, aber auf eine Art und Weise, die man tolerieren könne. Irgendwie waren die Kriege in Syrien oder Georgien schreckliche Gegenbeispiele, aber es war wohl nicht schlimm genug um einzugreifen.

Zweitens die Energiepolitik. Warum setzt Deutschland bei der Grundlastversorgung nicht auf Kernkraft? Die Kernenergie ist viel kohlenstoffärmer als Erdgas und sie ist auch eine Technologie von nationaler Bedeutung; so wird es etwa in Frankreich gesehen. Sicherlich ist Fukushima eine erschreckende Katastrophe gewesen und hat die jüngste Anti-Atomkraftbewegung gepusht. Aber diese erdrückende Abhängigkeit von russischem Gas erscheint einfach unvernünftig.

Wie beurteilen Sie die militärische Lage in der Ukraine und den Zustand der russischen Armee?

Es wird für die Russen sehr schwierig sein, auf dem Schlachtfeld weitere Fortschritte zu erzielen. Das behaupten nicht nur die Ukrainer, sondern es gibt auch unabhängige Einschätzungen aus dem NATO-Hauptquartier und von US-Geheimdiensten. Die Zahl der russischen Todesopfer liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen sieben und 15.000. Normalerweise rechnet man mit dem Zwei- oder Dreifachen an verletzten Truppen. Von den 190.000 Soldaten, die bereitgestellt wurden, müssen ohnehin eine Menge abgezogen werden, welche die eroberten Gebiete sichern. So lag die Größe der kämpfenden Invasionsarmee eher bei 140.000 Mann. Mein Kollege Mark Cancian (Center for Strategic and International Studies) meint, dass die Russen in den ersten fünf Wochen ein Viertel ihrer Invasionstruppen verloren haben. Das ist absolut bemerkenswert, wenn Sie bedenken, dass sie gegen eine Armee antraten, die vor acht Jahren ein hoffnungsloser Fall war. Zweifellos haben die Ukrainer ein paar Dinge richtig gemacht. Sie haben nicht viel neue Ausrüstung gekauft, aber sie haben sich ernsthaft um Ausbildung, Disziplin und Doktrin ihres Personals bemüht. Und sie hatten Hilfe von Amerikanern, Briten und Kanadiern. Realistisch betrachtet, wird die Situation auf dem Schlachtfeld für die ukrainische Zivilbevölkerung schrecklich bleiben. Aber die Versorgungssituation begünstigt die Ukraine in überwältigender Weise. Wenn wir die Produktionsraten wirksamer Waffensysteme erhöhen, können wir die Ukrainer wahrscheinlich ewig im Kampf halten. Wir stellen fest, dass ein Großteil der Reservekräfte der russischen Streitkräfte über viele Jahre hinweg systematisch abgebaut oder schlichtweg abgewrackt wurden. Die Situation scheint so schlimm zu sein, dass es keine nennenswerten Reserven gibt. Russland wird es sehr schwer haben, seine Verluste aus den harten Kämpfen auszugleichen, da es sowohl an ausgebildeten Truppen mangelt, als auch ein bemerkenswertes Unvermögen vorhanden ist, auch nur veraltete Ausrüstung zu beschaffen.

Halten Sie die 100 Milliarden Euro für einen echten Fortschritt in der deutschen Sicherheitspolitik?

Es fällt mir schwer, die Zahl 100 Milliarden richtig einzuschätzen, denn das ist eine unglaublich runde Zahl, sodass sie eher wie ein politischer Slogan wirkt. Wenn die Bundeswehr öffentlich zugibt, dass das deutsche Militär nahezu hilflos ist, ist das eine große Blamage. Aber anscheinend ist es in Deutschland wirklich so schlimm geworden. In den USA ist die Auffassung verbreitet, dass Deutschland in Bezug auf die internationale Sicherheit kein sehr ernst zu nehmendes Land ist. Folglich sollten wir uns nicht um die deutsche Meinung kümmern, wenn Amerikaner und Briten, Franzosen, Schweden und Tschechen ihre Pläne schmieden. Wenn man einen Platz an diesem Tisch haben will, muss man etwas beitragen können. Das ist eben die knallharte realpolitische Einstellung, nach der am Ende gehandelt wird.

Und für welche militärische Ausrüstung sollte Deutschland Geld ausgeben?

Es gibt zwei Dinge, für die man Geld ausgeben kann. Erstens kann man es ausgeben, um den Wartungsstandard der Ausrüstung zu verbessern, und zweitens, um neue Ausrüstung zu kaufen. Wir haben in den letzten Jahren einige erschreckende Geschichten über den Ausrüstungszustand in Deutschland mitbekommen. Das lässt die Bundeswehr eher wie die russische Armee aussehen. Wenn eine Panzerbrigade in Marsch gesetzt wird, dann muss dafür gesorgt werden, dass alle Panzer auch funktionieren. Wenn Infanteristen in den Kampf ziehen, dann sollten sie mit der besten und zuverlässigsten Ausrüstung ausgestattet sein, die verfügbar ist. Der avisierte Kauf von F-35 Mehrzweckkampfflugzeugen ist ein wichtiges politisches Signal. Aber ich würde es begrüßen, wenn die derzeitige Ausrüstung erst einmal auf Vordermann gebracht werden würde. Darüber hinaus empfehle ich eine konsequente Anstrengung, um eine große Anzahl von Präzisionslenkwaffen in die eigenen Depots aufzunehmen. Wenn man sowjetische Flugabwehrraketen aus alten ostdeutschen Beständen holt und feststellt, dass sie im Jahr 1992 abgelaufen sind, ist das nicht nur nutzlos, sondern eher zum Totlachen.

Was kann Deutschland in der Beschaffung von militärischem Gerät von den USA lernen?

Fragen Sie nicht in den USA nach Ratschlägen! Es gibt andere Länder, die sich Deutschland zum Vorbild nehmen kann. Ein Beispiel: Vor einigen Jahren wollte die US-Armee eine neue Pistole kaufen. Die Ausschreibung mit den Spezifikationen für die Waffe war 300 Seiten lang. Das ist Wahnsinn. Sie brauchen nur eine Polizeibehörde nach den sinnvollen Spezifikationen für eine Pistole zu fragen. Das eigentliche Problem ist, dass die Reform eines sklerotischen, übermäßig bürokratischen Beschaffungsprozesses viel Veränderung in den Institutionen erfordert. Und die Verantwortlichen haben nicht das Durchhaltevermögen, um das durchzuziehen.

Ich glaube, es gibt Länder, in denen die militärische Beschaffung besser funktioniert, wie Dänemark oder Schweden. Wenn die Dänen eine neue Fregatte kaufen, wollen sie das Schiff mit ihren eigenen hervorragenden Waffensystemen ausstatten. Aber der Schiffsrumpf wird in Rumänien hergestellt, wo er viel billiger produziert werden kann. Das ist eine pragmatische Vorgehensweise.

Bei der Beschaffung innovativer militärischer Produkte stellt sich vor allem die Frage, ob moderne Präzisionswaffen die offensive gepanzerte Kriegsführung mittlerweile zu riskant gemacht haben. Aber es gibt eine politische und fast schon ideologische Abneigung gegen ferngesteuerte Präzisionswaffen in Deutschland. Dabei wird außer Acht gelassen, dass diese Waffen den deutschen Streitkräften die Möglichkeit geben würden, sich effektiv an der Abwehr russischer Angriffe zu beteiligen.

Ist der Krieg in der Ukraine für China wie ein Realexperiment, um zu sehen, wie es früher oder später in Taiwan einmarschieren kann?

Es ist reine Spekulation, aber warum sind die Argentinier im Jahr 1982 auf den Falklandinseln einmarschiert? Sie versuchten die Falklandinseln zu erobern, weil das Regime befürchtete, seine Macht zu verlieren und ein großes politisches Ablenkungsmanöver brauchte, um die Menschen hinter sich zu vereinen. Die weitverbreitete Auffassung ist, dass das chinesische Regime seinen Bürgern suggeriert, sie sollen sich aus der Politik heraushalten. Nach dem Motto: Überlasst die Politik uns und wir werden die Voraussetzungen dafür schaffen, dass jeder in China reich werden kann! Das Problem ist, dass China alt werden könnte, bevor es kollektiv reich wird. Wenn sich das chinesische Wirtschaftswachstum deutlich verlangsamt, denken die chinesischen Machthaber vielleicht, dass auch sie eine Ablenkung gebrauchen könnten.

Also ist der Krieg in der Ukraine ein Lehrbeispiel für die Chinesen?

Die Geschehnisse in der Ukraine nähren nicht den chinesischen Optimismus, Taiwan erobern zu können. Taiwan beginnt übrigens ebenfalls, wichtige Lektionen aus diesem Krieg zu verinnerlichen. In den USA sehen wir zwei wichtige Komponenten. Erstens können große bewaffnete Verbände, die mit Präzisionslenkwaffen ausgerüstet sind, einer Invasionsmacht verheerenden Schaden zufügen. Zweitens muss sich das chinesische Regime Gedanken über seine Kleptokratie machen. Wenn Mechaniker anfangen die elektronischen Anlagen aus alten Panzern zu stehlen, die wieder in Betrieb genommen werden sollen, sinkt unweigerlich die Kampfkraft. Wie wir jetzt sehen können, ist die schlechte Wartung der militärischen Ausrüstung ein Hauptgrund für die mangelnde Effektivität der russischen Armee. Es ist ganz klar, dass Putin über den Zustand seiner Armee belogen wurde. Und diese Tatsache sollte Xi sehr skeptisch machen, was den Zustand seiner eigenen Streitkräfte angeht. Das Einzige, was ich als kollektive Lehre aus der Ukraine ziehe, die für einen chinesischen Plan, Taiwan anzugreifen, positiv sein könnte, ist, dass große und teure Kampfplattformen durch eine Masse an Präzisionswaffen weniger effektiv sind. So könnten die Chinesen nun optimistischer sein, den ein oder anderen der elf Flugzeugträger zerstören zu können, auf die die US-Marine ihre Kampfkraft konzentriert.

Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, wie nützlich es ist, wenn Smartphone-Videos vom Schlachtfeld auf YouTube veröffentlicht werden. Was ist Ihre Einschätzung zu diesem Thema?

Die ukrainischen Territorialtruppen nutzen Twitter und vor allem Telegram als Kommando- und Kontrollsystem. Ein früher Hinweis über Telegramm lautete, Tankwagen statt Kampfpanzer zu beschießen, da sie leichtere Ziele sind und ihre Zerstörung letztlich effektiver ist, da alle Panzer ohne Treibstoff nahezu nutzlos sind. Dies führte dazu, dass viele Panzer wegen Treibstoffmangels aufgegeben wurden. Heutzutage ist es schwer, eine signifikante Streitmacht bereitzustellen, ohne dass Zivilisten mit Mobiltelefonen und Unternehmen mit kommerziellen Beobachtungssatelliten alles beobachten können. In gewisser Weise sind die sozialen Medien zu einem militärischen Nachrichtendienst geworden, der von der Bevölkerung getragen wird. Der nächste Krieg wird über Smartphones und Milizionäre mit StarLink-Terminals übertragen werden. Selbstgebaute Drohnen werden nicht nur Mörserfeuer aufspüren. Das ist nur positiv für die Wehrhaftigkeit der Demokratie.

Sehr geehrter Herr Hasik, wir danken Ihnen für Ihre offenen Worte und Einsichten in die US-Perspektive auf Deutschland und Europa.

Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Prof. Dr. Christian Schultz.


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Kalenderwoche 06 // Außenpolitische Perspektive

“Wir registrieren, dass Deutschlands Tun und Handeln in Moskau besonders beobachtet wird.”

In der Serie Perspektive Sicherheitspolitik geben die führenden Köpfe der deutschen Sicherheitspolitik Leserinnen und Lesern ihr persönliches Lagebild der Sicherheitspolitik. Sie erklären, welche Herausforderung der Sicherheitspolitik aus ihrer Sicht jetzt dringend wird. In dieser Woche spricht die FDP-Verteidigungsexpertin und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie-Agens Strack-Zimmermann über die Krise in der Ukraine und was sie als Verteidigungsministerin als erstes getan hätte.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages.

Lagebild Sicherheit: Sehr geehrte Frau Strack-Zimmermann. Sie waren eine hoch gehandelte Kandidatin für das Amt der Verteidigungsministerin. War es für Sie eine große Enttäuschung, nicht dieses Amt zu bekommen?

Ich habe die sehr große Ehre, in dieser Wahlperiode den Verteidigungsausschuss als Vorsitzende führen zu dürfen. Damit verbunden ist eine große Verantwortung. Diese Aufgabe habe ich als überzeugte Parlamentarierin mit Freude angenommen. Wahrlich kein Grund enttäuscht zu sein. Ich halte im Übrigen Christine Lambrecht für eine sehr gute Wahl als Verteidigungsministerin.

Lagebild Sicherheit: Nehmen wir einmal an, Sie wären Verteidigungsministerin geworden. Was wären ihre ersten beiden Handlungen gewesen?

Ich hätte Gespräche mit und Reisen zur Truppe angesetzt. In der Politik – insbesondere in der Verteidigungspolitik – ist es extrem wichtig, zuzuhören und sich persönlich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Wer die Bundeswehr verstehen will, muss mit den Soldatinnen und Soldaten sprechen.

Lagebild Sicherheit: Die Krise in der Ukraine zeigt deutlich, dass Deutschland ein Problem mit seiner militärischen und außenpolitischen Aufstellung insgesamt hat. “5000 Helme” – das ist international nicht gut angekommen, Polen hat Deutschland sogar vorgeworfen, man könne sich auf die Deutschen nicht verlassen. Kann das verlorene Vertrauen der östlichen Anrainerstaaten zurückgewonnen werden?

Die Kommunikation zu den 5.000 gelieferten Helmen war ausbaufähig. Es ging darum, dass die Ukraine ohne Nennung von Stückzahlen um Helme gebeten hatte. Die 5.000 sind solche, die die Bundeswehr sofort entbehren konnte. Ich denke, niemand geht davon aus, dass diese Helme an sich den Unterschied ausmachen, aber sie sind ein kleiner Baustein eines größeren Bildes. Deutschland unterstützt die Ukraine seit langer Zeit auf unterschiedlichen Ebenen, unter anderem mit medizinischer Versorgung, Ausbildungshilfe, bilateraler Entwicklungszusammenarbeit, Berufsbildung, Energiepartnerschaften, mit Finanzkrediten, polizeilicher Zusammenarbeit und humanitärer Hilfe. Insgesamt mit 1,83 Milliarden Euro. Absehbar auch mit einer EU Military Advise and Training Mission. Deutschland hat sich klar positioniert und auch gegenüber Russland Sanktionen angekündigt, wenn Moskau die Situation weiter eskaliert. Wir registrieren, dass Deutschlands Tun und Handeln in Moskau besonders beobachtet wird im Vergleich zu unseren Partner- und den Nachbarstaaten.

Deutschland ist ein verlässlicher Partner und ist engagiert an der enhanced forward presence zum Schutz der Außengrenze der NATO beteiligt. Wir suchen engagiert den Austausch mit unseren östlichen Bündnispartnern. Ich glaube allerdings, dass manche Diskussion, die hierzulande über die NATO und die nukleare Teilhabe geführt wurde, uns Glaubwürdigkeit gekostet hat. Ich weiß aber, dass Deutschland in diesen Staaten ein hohes Ansehen genießt und bin davon überzeugt, dass man darauf aufbauend auch wieder mehr Vertrauen schaffen kann.   

Lagebild Sicherheit: Halten Sie die aktuelle Situation auch für einen Testfall für mögliche weitere russische Agitationen in anderen Staaten ehemaligen Sowjetunion? Möglicherweise in Staaten, die uns weniger nahe liegen und deshalb noch einfacher zu okkupieren sind?

Es gehört leider dazu, dass der Kreml eine solche ernste Krise, in der sich Millionen von Menschen mit dem Leben bedroht sehen, als Machtprobe einsetzt und sich ein Stück weit an einer Machtdemonstration versucht. Putin möchte der Welt beweisen, dass Russland nach wie vor eine Weltmacht ist. Deshalb sucht er gezielt die Konfrontation mit dem Westen – insbesondere der EU und den USA. Von den Staaten der ehemaligen Sowjetunion hat die Ukraine nach den baltischen Staaten, die sowohl der EU als auch der NATO angehören, die größte Nähe zum Westen. Sollte der Westen dort nicht entschlossen und geeint reagieren, würde Moskau daraus sicher seine eigenen Schlüsse ziehen.

Lagebild Sicherheit: Immer wieder wird die Frage nach Waffenlieferungen in die Ukraine gestellt. Roderich Kiesewetter sagte sogar, es sei geschichtsvergessen keine Waffen an die Ukraine zu liefern und bezog sich auf das Versagen der Appeasement Policy. Die Briten liefern derzeit Waffen. Was denken Sie über den Ausschluss deutscher Waffenlieferungen?

Ich glaube nicht, dass schwere Waffen das einzige sind, was die Ukraine gerade braucht. Deutschland unterstützt auf vielseitige Weise und steht immer bereit zu vermitteln, damit diese Waffen eben nie eingesetzt werden müssen. Ich halte es übrigens für geschichtsvergessen anzunehmen, dass Bilder von deutschen Waffensystemen, die an die russische Grenze verlegt werden, keine zusätzliche Eskalation darstellen.

Lagebild Sicherheit: In der allgemeinen Debatte führen manche an, Russland habe in seiner Geschichte noch nie Westeuropa angegriffen, vielmehr erweitere sich die Nato in Richtung Russland. Was entgegnen Sie dem?

Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis, dessen Ziel es ist, mögliche Angreifer durch seine gemeinsame militärische Stärke abzuschrecken. Ich sehe nicht, wie die Erweiterung eines solchen Bündnisses bedrohlich wirken kann, wenn man nicht in Erwägung zieht, seine Nachbarstaaten anzugreifen. Außerdem geht es nicht nur um den Schutz von Westeuropa. Es geht darum, die territoriale Integrität aller Staaten zu respektieren und für sie einzustehen.

Lagebild Sicherheit: Ein anderes Thema: Eine Reform der Bundeswehr ist lange überfällig. Nun soll wieder eine neue Reform gestartet werden. Die alten Reformpläne landen in der Schublade. Wie bewerten Sie die Reformfähigkeit der Bundeswehr und des BMVg?

Die Papiere, die die ehemalige Ministerin im vergangenen Sommer vorgelegt hat, beinhalten in erster Linie Prüfaufträge an die Bundeswehr und das BMVg, aber noch keine Reformpläne. Es ist nachvollziehbar, dass diese ersten Überlegungen jetzt nicht unreflektiert von der neuen Regierung übernommen werden. Wir haben im Koalitionsvertrag eine kritische Bestandsaufnahme der Bundeswehr vereinbart, um die Effizienz und die Einsatzbereitschaft zu steigern, und diese wird jetzt durchgeführt. Wir haben alle in den vergangenen Jahren erlebt, dass es einen Veränderungsbedarf in der Organisation und den Strukturen gibt.

Die Bundeswehr selbst weist eine hohe Reformfähigkeit auf. Insbesondere die Soldatinnen und Soldaten stehen Veränderungen offen gegenüber und sind Spezialisten darin, sich einer neuen Situation schnell anzupassen. Gleichzeitig sind das Verteidigungsministerium und sein nachgeordneter Bereich ein enorm großer und komplexer Apparat. Hinzukommt, dass Veränderungen an Struktur und Auftrag der Streitkräfte auch zumeist mit veränderten Anforderungen an Material, Logistik und Standorte einhergehen. Deshalb sind richtige Reformen kein kurzfristiges Mittel, das sofort wirkt. Wir müssen dem Prozess etwas Zeit geben, auch wenn sich die Sicherheitslage um uns herum rasant entwickelt.

Lagebild Sicherheit: Ein weiteres Thema jeder Verteidigungsministerin ist die Frage der Identifikation der deutschen mit ihrer Parlamentsarmee. Die Afghanistan-Rückkehr hat diese Debatte wieder entflammt. Was ist zu tun, um mehr Bindung zwischen Bundeswehr und Gesellschaft zu schaffen?

Es gibt kein Nebeneinander zwischen Bundeswehr und Gesellschaft, die Bundeswehr ist integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Zu beobachten ist allerdings, dass nach dem Aussetzen der Wehrpflicht sehr viel weniger Menschen mit der Bundeswehr in direkten Kontakt gekommen sind. Die sicherheitspolitische Lage war auch so, dass sie bei den Diskussionen am Küchentisch nicht mehr vorkommen musste. Letzteres hat sich in den vergangenen Jahren wieder geändert – doch der Blick war leider häufig von Häme geprägt. Inzwischen ist die Bundeswehr nicht nur sichtbarer sondern auch greifbarer. Das Bahnfahren in Uniform hat sicherlich geholfen. Entscheidend war und ist aber die Amtshilfe in der Corona-Pandemie. Hier gibt es sehr viel Kontakt und entsprechend positive Erfahrungen mit den Bürgerinnen und Bürgern.

Amtshilfemaßnahmen sind aber natürlich kein Selbstzweck und erst recht kein Marketinginstrument. Wir müssen die Berührungspunkte zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Bundeswehr gezielt suchen. Deshalb halte ich auch die Arbeit der Jugendoffiziere, die hervorragende Informationsarbeit leisten, für sinnvoll. Vielen Menschen fehlt schlicht das Verständnis für die Institution Bundeswehr und dem kann man am besten mit Transparenz und Information auf die Sprünge helfen. Ich wünsche mir, dass die Debatten über Aufgaben und Rolle der Bundeswehr in der gesamten Gesellschaft geführt werden. Denn die Bundeswehr ist das zentrale Instrument, um unser aller Leben in Frieden und Sicherheit zu schützen.

Lagebild Sicherheit: Liebe Frau Strack-Zimmermann, ich danke Ihnen für das Gespräch.


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.

 

Kalenderwoche 05 // Innenpolitische Perspektive

“Generalrevision und Überwachungsgesamtrechnung sind überfällig.”

In dieser Woche spricht der Grünen-Bundestagsabgeordnete Dr. Konstantin von Notz mit uns über die Aufteilung der Sicherheitsressorts innerhalb der Ampel-Koalition, das Profil der Grünen in der inneren Sicherheit und welchen Vorteil er in einer “Überwachungsgesamtrechnung” sieht.

Konstantin von Notz (Grüne), Rechtsanwalt und stv. Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums.

Lagebild Sicherheit: Herr von Notz, wie fühlt es sich an, nach vielen Jahren der Opposition nun in Regierungsverantwortung Sicherheitspolitik gestalten zu können?

Zunächst sind derzeit noch alle Beteiligten damit beschäftigt, sich für die kommenden vier Jahre gut aufzustellen, fachliche Zuständigkeiten zu klären, institutionalisierte Gesprächsrunden zu etablieren und erste Vorhabensplanungen zu erstellen. Das gilt für die Exekutive genauso wie für das Parlament. Insgesamt sind wir guten Mutes, dass es uns in den nächsten vier Jahren gelingt, all die wichtigen Projekte und Reformen, die wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, auch tatsächlich gemeinsam umzusetzen und so für einen echten Fortschritt und Wandel, nicht bloß in der Innen- und Sicherheitspolitik zu sorgen. Ich zumindest freue mich auf das vor uns Liegende.

Lagebild Sicherheit: Die Sicherheitsressorts sind überwiegend an die SPD gegangen. Hätten Sie sich mehr grüne Handschrift auch beim Thema Sicherheit gewünscht, beispielsweise durch einen grünen Innenminister?

Zunächst sind wir mit der Ausgangslage und dem bisher Erreichten sehr zufrieden. Die Weichen für einen echten Neuanfang in der Innen- und Sicherheitspolitik sind gestellt. Der Koalitionsvertrag ist eine gute Grundlage und die neue Tonalität aus dem Innenministerium sehr wohltuend. Als Fraktion wähnen wir uns hervorragend aufgestellt, sowohl inhaltlich wie personell. Wir freuen uns, die zahlreichen Themen und Projekte, die nun umzusetzen sind, zukünftig auf mehr Schultern verteilen zu können. Sicherlich ist es in dem beschriebenen Rahmen kein Automatismus, Sichtbarkeit für grüne Positionen zu erreichen. Wir sind aber sehr optimistisch, dass es uns gelingt, Treiber einer modernen und progressiven Innenpolitik ist, die auf Evidenz basiert, neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen maximal entschlossen begegnet und unsere Grund- und Freiheitsrechte wahrt und verteidigt.

Lagebild Sicherheit: Die Grünen haben ein starkes Profil im Bereich Datenschutz und Schutz der Zivilgesellschaft vor staatlichen Eingriffen. Ist es Ihrer Ansicht nach Zeit dafür, dass die Grünen die Cybersicherheit als Kernthema (national und international) für sich entdecken und sich auch mit der Seite des Eingreifenden genau auseinander zu setzen?

Wir können als Grüne nach den letzten Jahren sehr selbstbewusst sagen, dass wir nicht nur in den genannten Bereichen, sondern in der gesamten Innen- und Sicherheitspolitik sehr viel zu bieten haben. Als Fraktion haben wir den Politikbereich in den vergangenen Jahren wahnsinnig intensiv bearbeitet und immer wieder sehr konkrete parlamentarische Initiativen vorgelegt – zur Polizei, zur Reform der Befugnisse der Nachrichtendienste und zur verbesserten parlamentarischen Kontrolle, zur Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in den gemeinsamen Abwehrzentren, zur besseren Erkennung und Bekämpfung hybrider Bedrohungen, zur Neuaufstellung im Katastrophenschut. Auch zur Cybersicherheit waren wir es, die als erste Fraktion überhaupt sehr weitreichende Vorschläge unterbreitet und die maßgeblichen Anhörungen im Parlament initiiert haben, lange bevor Schlagworte wie die „Digitale Souveränität“ en vogue geworden sind. Statt sich in Symboldebatten um Burkaverbot, Fußfessel und Co. zu verlieren, die sicherheitspolitisch nie irgendeinen Mehrwert gebracht haben, verfolgen wir seit langem einen sehr ganzheitlichen Ansatz, der Sicherheit auf allen Ebenen erhöht.

Lagebild Sicherheit: Welche Herausforderungen in der Sicherheitspolitik muss Deutschland innerhalb dieses Jahres primär angehen und warum?

Wir brauchen eine Verrechtlichung der Arbeit der Sicherheitsbehörden. Hierzu bedarf es zunächst einer Generalrevision der Sicherheitsarchitektur und der Aufstellung einer auch vom Bundesverfassungsgericht wiederholt geforderten „Überwachungsgesamtrechnung“. Auf dieser Grundlage werden wir uns sehr genau anschauen, wie wir die Arbeit der Sicherheitsbehörden, auch im Sinne der Beschäftigten, rechtssicherer ausgestalten können. Die Zeit, in denen die Politik immer wieder von höchsten Gerichten eingesammelt wird, muss endlich vorbei sein. Auch hierdurch erhöhen wir die Sicherheit in unserem Land. Neben guten Rechtsgrundlagen braucht es aber natürlich auch deren Umsetzung. Auch hier setzen wir an, durch die Weiterentwicklung des wichtigen „Pakts für den Rechtsstaat“ zu einem „Digitalpakt für die Justiz“.

Die IT-Sicherheit ist ein ganz zentrales sicherheitspolitisches Thema unserer Zeit. Hier vollziehen wir eine echte Kehrtwende, beenden den die IT-Sicherheit massiv gefährdenden Handel mit Sicherheitslücken, führen ein „Schwachstellen-Management“ ein, erteilen sicherheitspolitisch kontraproduktiven Massenüberwachungen eine klare Absage und kehren zum rechtsstaatlichen Grundsatz zurück, dass zielgerichtet gegen denjenigen ermittelt wird, bei dem ein entsprechender Anlass besteht. Einrichtungen wie das Cyberabwehrzentrum oder auch Zitis kriegen endlich eine Rechtsgrundlage. Und das BSI stellen wir unabhängiger, damit es seiner eigentlichen Aufgaben endlich gerecht werden kann. 

Zu guter Letzt liegt mir als stellvertretendem Vorsitzenden des parlamentarischen Kontrollgremiums der Geheimdienstbereich sehr am Herzen. In Zeiten massiver, teils gewalttätiger Anfeindungen gegen unsere Demokratie, ihre Institutionen und Repräsentanten brauchen unsere Nachrichtendienste eine personell wie technisch gute Ausstattung sowie klare Handlungsgrundlagen, auch in bislang weitgehend unregulierten Bereichen wie beim Einsatz von V-Leuten. Zudem braucht es auch weiterhin eine verbesserte parlamentarische Kontrolle. Auch als Konsequenz der Aufklärung in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen wurden hier erste, wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Weitere Schritte müssen folgen und ich freue mich, dass es uns als Ampelkoalition gemeinsam mit SPD und FDP gelungen ist, hier einen guten Fahrplan zu vereinbaren. Jetzt muss er umgesetzt werden.     

Lagebild Sicherheit: Lieber Herr von Notz, ich bedanke mich bei Ihnen für das Gespräch.


In der wöchentlichen Ausgabe erhalten Sie kostenlos das vollständige Lagebild der Sicherheit.

Melden Sie sich jetzt an.