James Hasik: „Die 100 Milliarden Euro sind ein politischer Slogan, die Institutionen müssen sich verändern.”
Kalenderwoche 17 // Auslandsperspektive
Mit Beginn der Ukraine-Krise und der Erkenntnis, dass Deutschland “blank da steht” (Zit. Gen. A. Mais), ist eine lange schwelende Debatte wieder aufgeflammt: Warum ist Verteidigungspolitik und Rüstung in Deutschland so schwerfällig, teuer und kompliziert?Lagebild Sicherheit hat einen weltweit renommierten US-Experten für Beschaffung und Rüstung getroffen: Dr. James Hasik (MBA) ist Senior Research Fellow am Center for Government Contracting an der School of Business der George Mason University und Non-Resident Senior Fellow im Defense Technology Program am Center for European Policy Analysis. Zuvor war er Senior Fellow am Scowcroft Center for Strategy and Security des Atlantic Council. In den letzten sechzehn Jahren hat Hasik Unternehmen und Ministerien im Verteidigungsbereich in betriebswirtschaftlichen Beschaffungsfragen, Lieferkettensicherheit und in Fusionen beraten. Er ist Autor zahlreicher Bücher, die sich mit ökonomischen Fragen der Verteidigung und Beschaffung auseinandersetzen.
Herr Dr. Hasik, es freut uns, dass Sie zu einem Gespräch bereit sind. Wie wird in den USA die Haltung Deutschlands zum Krieg in der Ukraine und zu Russland im Allgemeinen wahrgenommen?
Es gibt zwei Bereiche, die für Experten in den USA schwer nachzuvollziehen sind. Erstens, die langjährige Regierung von Angela Merkel hatte eine völlig ungerechtfertigt positive Sicht auf das, was in bilateralen oder multilateralen Beziehungen zu Russland erreicht werden könnte. Die Annahme schien zu sein, dass Putin sich gelegentlich ungezogen verhalten würde, aber auf eine Art und Weise, die man tolerieren könne. Irgendwie waren die Kriege in Syrien oder Georgien schreckliche Gegenbeispiele, aber es war wohl nicht schlimm genug um einzugreifen.
Zweitens die Energiepolitik. Warum setzt Deutschland bei der Grundlastversorgung nicht auf Kernkraft? Die Kernenergie ist viel kohlenstoffärmer als Erdgas und sie ist auch eine Technologie von nationaler Bedeutung; so wird es etwa in Frankreich gesehen. Sicherlich ist Fukushima eine erschreckende Katastrophe gewesen und hat die jüngste Anti-Atomkraftbewegung gepusht. Aber diese erdrückende Abhängigkeit von russischem Gas erscheint einfach unvernünftig.
Wie beurteilen Sie die militärische Lage in der Ukraine und den Zustand der russischen Armee?
Es wird für die Russen sehr schwierig sein, auf dem Schlachtfeld weitere Fortschritte zu erzielen. Das behaupten nicht nur die Ukrainer, sondern es gibt auch unabhängige Einschätzungen aus dem NATO-Hauptquartier und von US-Geheimdiensten. Die Zahl der russischen Todesopfer liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen sieben und 15.000. Normalerweise rechnet man mit dem Zwei- oder Dreifachen an verletzten Truppen. Von den 190.000 Soldaten, die bereitgestellt wurden, müssen ohnehin eine Menge abgezogen werden, welche die eroberten Gebiete sichern. So lag die Größe der kämpfenden Invasionsarmee eher bei 140.000 Mann. Mein Kollege Mark Cancian (Center for Strategic and International Studies) meint, dass die Russen in den ersten fünf Wochen ein Viertel ihrer Invasionstruppen verloren haben. Das ist absolut bemerkenswert, wenn Sie bedenken, dass sie gegen eine Armee antraten, die vor acht Jahren ein hoffnungsloser Fall war. Zweifellos haben die Ukrainer ein paar Dinge richtig gemacht. Sie haben nicht viel neue Ausrüstung gekauft, aber sie haben sich ernsthaft um Ausbildung, Disziplin und Doktrin ihres Personals bemüht. Und sie hatten Hilfe von Amerikanern, Briten und Kanadiern. Realistisch betrachtet, wird die Situation auf dem Schlachtfeld für die ukrainische Zivilbevölkerung schrecklich bleiben. Aber die Versorgungssituation begünstigt die Ukraine in überwältigender Weise. Wenn wir die Produktionsraten wirksamer Waffensysteme erhöhen, können wir die Ukrainer wahrscheinlich ewig im Kampf halten. Wir stellen fest, dass ein Großteil der Reservekräfte der russischen Streitkräfte über viele Jahre hinweg systematisch abgebaut oder schlichtweg abgewrackt wurden. Die Situation scheint so schlimm zu sein, dass es keine nennenswerten Reserven gibt. Russland wird es sehr schwer haben, seine Verluste aus den harten Kämpfen auszugleichen, da es sowohl an ausgebildeten Truppen mangelt, als auch ein bemerkenswertes Unvermögen vorhanden ist, auch nur veraltete Ausrüstung zu beschaffen.
Halten Sie die 100 Milliarden Euro für einen echten Fortschritt in der deutschen Sicherheitspolitik?
Es fällt mir schwer, die Zahl 100 Milliarden richtig einzuschätzen, denn das ist eine unglaublich runde Zahl, sodass sie eher wie ein politischer Slogan wirkt. Wenn die Bundeswehr öffentlich zugibt, dass das deutsche Militär nahezu hilflos ist, ist das eine große Blamage. Aber anscheinend ist es in Deutschland wirklich so schlimm geworden. In den USA ist die Auffassung verbreitet, dass Deutschland in Bezug auf die internationale Sicherheit kein sehr ernst zu nehmendes Land ist. Folglich sollten wir uns nicht um die deutsche Meinung kümmern, wenn Amerikaner und Briten, Franzosen, Schweden und Tschechen ihre Pläne schmieden. Wenn man einen Platz an diesem Tisch haben will, muss man etwas beitragen können. Das ist eben die knallharte realpolitische Einstellung, nach der am Ende gehandelt wird.
Und für welche militärische Ausrüstung sollte Deutschland Geld ausgeben?
Es gibt zwei Dinge, für die man Geld ausgeben kann. Erstens kann man es ausgeben, um den Wartungsstandard der Ausrüstung zu verbessern, und zweitens, um neue Ausrüstung zu kaufen. Wir haben in den letzten Jahren einige erschreckende Geschichten über den Ausrüstungszustand in Deutschland mitbekommen. Das lässt die Bundeswehr eher wie die russische Armee aussehen. Wenn eine Panzerbrigade in Marsch gesetzt wird, dann muss dafür gesorgt werden, dass alle Panzer auch funktionieren. Wenn Infanteristen in den Kampf ziehen, dann sollten sie mit der besten und zuverlässigsten Ausrüstung ausgestattet sein, die verfügbar ist. Der avisierte Kauf von F-35 Mehrzweckkampfflugzeugen ist ein wichtiges politisches Signal. Aber ich würde es begrüßen, wenn die derzeitige Ausrüstung erst einmal auf Vordermann gebracht werden würde. Darüber hinaus empfehle ich eine konsequente Anstrengung, um eine große Anzahl von Präzisionslenkwaffen in die eigenen Depots aufzunehmen. Wenn man sowjetische Flugabwehrraketen aus alten ostdeutschen Beständen holt und feststellt, dass sie im Jahr 1992 abgelaufen sind, ist das nicht nur nutzlos, sondern eher zum Totlachen.
Was kann Deutschland in der Beschaffung von militärischem Gerät von den USA lernen?
Fragen Sie nicht in den USA nach Ratschlägen! Es gibt andere Länder, die sich Deutschland zum Vorbild nehmen kann. Ein Beispiel: Vor einigen Jahren wollte die US-Armee eine neue Pistole kaufen. Die Ausschreibung mit den Spezifikationen für die Waffe war 300 Seiten lang. Das ist Wahnsinn. Sie brauchen nur eine Polizeibehörde nach den sinnvollen Spezifikationen für eine Pistole zu fragen. Das eigentliche Problem ist, dass die Reform eines sklerotischen, übermäßig bürokratischen Beschaffungsprozesses viel Veränderung in den Institutionen erfordert. Und die Verantwortlichen haben nicht das Durchhaltevermögen, um das durchzuziehen.
Ich glaube, es gibt Länder, in denen die militärische Beschaffung besser funktioniert, wie Dänemark oder Schweden. Wenn die Dänen eine neue Fregatte kaufen, wollen sie das Schiff mit ihren eigenen hervorragenden Waffensystemen ausstatten. Aber der Schiffsrumpf wird in Rumänien hergestellt, wo er viel billiger produziert werden kann. Das ist eine pragmatische Vorgehensweise.
Bei der Beschaffung innovativer militärischer Produkte stellt sich vor allem die Frage, ob moderne Präzisionswaffen die offensive gepanzerte Kriegsführung mittlerweile zu riskant gemacht haben. Aber es gibt eine politische und fast schon ideologische Abneigung gegen ferngesteuerte Präzisionswaffen in Deutschland. Dabei wird außer Acht gelassen, dass diese Waffen den deutschen Streitkräften die Möglichkeit geben würden, sich effektiv an der Abwehr russischer Angriffe zu beteiligen.
Ist der Krieg in der Ukraine für China wie ein Realexperiment, um zu sehen, wie es früher oder später in Taiwan einmarschieren kann?
Es ist reine Spekulation, aber warum sind die Argentinier im Jahr 1982 auf den Falklandinseln einmarschiert? Sie versuchten die Falklandinseln zu erobern, weil das Regime befürchtete, seine Macht zu verlieren und ein großes politisches Ablenkungsmanöver brauchte, um die Menschen hinter sich zu vereinen. Die weitverbreitete Auffassung ist, dass das chinesische Regime seinen Bürgern suggeriert, sie sollen sich aus der Politik heraushalten. Nach dem Motto: Überlasst die Politik uns und wir werden die Voraussetzungen dafür schaffen, dass jeder in China reich werden kann! Das Problem ist, dass China alt werden könnte, bevor es kollektiv reich wird. Wenn sich das chinesische Wirtschaftswachstum deutlich verlangsamt, denken die chinesischen Machthaber vielleicht, dass auch sie eine Ablenkung gebrauchen könnten.
Also ist der Krieg in der Ukraine ein Lehrbeispiel für die Chinesen?
Die Geschehnisse in der Ukraine nähren nicht den chinesischen Optimismus, Taiwan erobern zu können. Taiwan beginnt übrigens ebenfalls, wichtige Lektionen aus diesem Krieg zu verinnerlichen. In den USA sehen wir zwei wichtige Komponenten. Erstens können große bewaffnete Verbände, die mit Präzisionslenkwaffen ausgerüstet sind, einer Invasionsmacht verheerenden Schaden zufügen. Zweitens muss sich das chinesische Regime Gedanken über seine Kleptokratie machen. Wenn Mechaniker anfangen die elektronischen Anlagen aus alten Panzern zu stehlen, die wieder in Betrieb genommen werden sollen, sinkt unweigerlich die Kampfkraft. Wie wir jetzt sehen können, ist die schlechte Wartung der militärischen Ausrüstung ein Hauptgrund für die mangelnde Effektivität der russischen Armee. Es ist ganz klar, dass Putin über den Zustand seiner Armee belogen wurde. Und diese Tatsache sollte Xi sehr skeptisch machen, was den Zustand seiner eigenen Streitkräfte angeht. Das Einzige, was ich als kollektive Lehre aus der Ukraine ziehe, die für einen chinesischen Plan, Taiwan anzugreifen, positiv sein könnte, ist, dass große und teure Kampfplattformen durch eine Masse an Präzisionswaffen weniger effektiv sind. So könnten die Chinesen nun optimistischer sein, den ein oder anderen der elf Flugzeugträger zerstören zu können, auf die die US-Marine ihre Kampfkraft konzentriert.
Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, wie nützlich es ist, wenn Smartphone-Videos vom Schlachtfeld auf YouTube veröffentlicht werden. Was ist Ihre Einschätzung zu diesem Thema?
Die ukrainischen Territorialtruppen nutzen Twitter und vor allem Telegram als Kommando- und Kontrollsystem. Ein früher Hinweis über Telegramm lautete, Tankwagen statt Kampfpanzer zu beschießen, da sie leichtere Ziele sind und ihre Zerstörung letztlich effektiver ist, da alle Panzer ohne Treibstoff nahezu nutzlos sind. Dies führte dazu, dass viele Panzer wegen Treibstoffmangels aufgegeben wurden. Heutzutage ist es schwer, eine signifikante Streitmacht bereitzustellen, ohne dass Zivilisten mit Mobiltelefonen und Unternehmen mit kommerziellen Beobachtungssatelliten alles beobachten können. In gewisser Weise sind die sozialen Medien zu einem militärischen Nachrichtendienst geworden, der von der Bevölkerung getragen wird. Der nächste Krieg wird über Smartphones und Milizionäre mit StarLink-Terminals übertragen werden. Selbstgebaute Drohnen werden nicht nur Mörserfeuer aufspüren. Das ist nur positiv für die Wehrhaftigkeit der Demokratie.
Sehr geehrter Herr Hasik, wir danken Ihnen für Ihre offenen Worte und Einsichten in die US-Perspektive auf Deutschland und Europa.
Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Prof. Dr. Christian Schultz.
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