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Das Mächtekonzert der Zukunft - Von der Unipolarität zur Pentarchie?

Rezension zu Herfried Münkler. 2023. Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, rowohlt, Berlin.

Herfried Münkler legt mit seinem Werk „Welt in Aufruhr“ eine Analyse der großen politischen Umwälzungen im 21. Jahrhundert vor: Sowohl der Abschied der USA von ihrer Rolle als Garant einer regelbasierten Ordnung als auch die revisionistischen Raumvorstellungen Russlands und Chinas in Osteuropa und im Pazifik gefährden die Stabilität des internationalen Systems. Auf der Grundlage historischer Konstellationen und Ordnungsentwürfe wagt Münkler einen Blick in das 21. Jahrhundert und prognostiziert eine Pentarchie der Mächte, zu der die USA, China, die EU, Russland und Indien gehören werden. Ob es sich bei dieser neuen Konstellation um ein austariertes Mächtegleichgewicht oder „Chaos, das ins Chaos schwankt“ handelt, wird auch vom Wahljahr 2024 abhängen.

Münklers Einordnung der politischen Gegenwart

Mit einer Zeitdiagnose seit dem Fall der Berliner Mauer leitet Münkler die 526-Seiten lange Analyse ein. Zunächst habe der Untergang der Sowjetunion die von Francis Fukuyama vielzitierte These vom „Ende der Geschichte“ beflügelt. Der 11. September 2001 habe mit dem anschließenden „War on Terror“ im Nahen Osten die USA als globale Ordnungsmacht überfordert. Die Obama-Administration reagierte mit dem „Pivot to Asia“ auf die globalen Ansprüche der aufsteigenden Volksrepublik China. Mit dem Angriff gegen die Ukraine vom 24. Februar 2022 hat Russland nicht nur seine revisionistischen Ambitionen endgültig offenbart, sondern auch die Formel „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ fortgespült.

Strategische Defizite im Westen, Revisionismus im Osten

Kritisch mahnt Münkler an, dass diese Zeitordnung durch die Ereignisreihung auch eine politische Festlegung impliziert: Stehen am Anfang der Konfrontation zwischen Ost und West die von Russland begonnenen Kriege in Tschetschenien und Georgien oder die NATO-Luftwaffenoffensive gegen Serbien 1999? Seine Analyse konzentriert sich auf die Bedingungen und Möglichkeiten von Friedensordnungen und das Nachzeichnen der politischen Entwicklung zwischen Krieg und Frieden. Eigens für seine Analyse rekonstruiert Münkler aus der politischen Ideengeschichte das Vegetius-Modell (glaubwürdige Abschreckung), das Dante-Modell (Staat als Ordnungsmacht) und das Comte-Spencer-Modell (Abschreckung durch wirtschaftliche Kooperation). Diese Schablonen ermöglichen eine Deutung der Ereignisse in beide Richtungen – sie umfassen sowohl die strategischen Defizite des Westens als auch den Revisionismus Russlands und Chinas.

Die Komplexität internationaler Krisenlagen ist Münkler dabei bewusst. Kritisch wird angemerkt, dass sich handelnde Akteure beim Um- und Ausbau von internationalen Ordnungen nicht in historische Konstellationen oder Modelle zwängen lassen. Gleichzeitig solle den einzelnen Akteuren auch nicht die alles überragende Gestaltungsmacht attestieret werden, wie das in Biografien und Memoiren oft der Fall ist.

Bei den Quellen greift Münkler tief ins Repertoire: Während die Theoretiker großer Umbrüche wie Thukydides, Machiavelli oder Clausewitz erwartbar für eine Analyse Münklers sind, überrascht seine Befassung mit hierzulande weniger bekannten Philosophen wie Zhao Tingyang und dessen Tianxia-Begriff (auf deutsch: „Alles unter einem Himmel“). Insgesamt verweist Münkler in seiner Analyse auf 727 Fußnoten. Allein das Literaturverzeichnis umfasst 20 Seiten. Diese Fülle an Wissen verschreckt aber nicht, sie lädt den Leser zum Mit- und Weiterdenken ein.

Ergebnis

Nicht jedem Gedanken des Autors muss der Leser zustimmen. Aber ignorieren kann man sie nicht – erst recht nicht in dem mit 65 Wahlen gefüllten Wahljahr 2024. Denn ob sich die EU als robuste Gestalterin in einem „Direktorium der globalen Ordnung“ etablieren kann, hängt nicht zuletzt damit zusammen, wer am 20. Januar 2025 in Washington D.C. auf der Westseite des Kapitols vereidigt wird. Das jüngste 50 Mrd. Euro-Paket aus Brüssel für die Ukraine ist ein Signal zunehmender Verantwortungsbereitschaft an die Außenwelt. „Welt in Aufruhr“ ist jenes deutschsprachige Begleitwerk, das dem Leser Übersicht über die abrupten Veränderungen der jüngsten politischen Geschichte bietet.

Der Verfasser: Vladimir Stosic ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Redaktion von Lagebild Sicherheit und spezialisiert auf internationale Fragen. Der studierte Politologe promoviert über Machtverschiebungen der Sicherheitspolitik im Balkanraum an der TU Chemnitz und ist Stipendiat der Graduiertenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Stosic war zuvor an der Universität Bonn für die Henry-Kissinger-Professur für Sicherheits- und Strategieforschung tätig. Er spricht Deutsch, Englisch, Serbisch, Französisch und in Grundlagen Russisch und Chinesisch.