Sönke Neitzel: „Ich glaube, dass der Konflikt mit Russland noch lange andauern wird.”

Kalenderwoche 24 // Wissenschaftliche Perspektive

Prof. Dr. Sönke Neitzel ist einer der führenden Militärhistoriker Deutschlands und Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. Im Lagebild Sicherheit gibt er uns seine Einschätzung der Lage: Wie lange wird der Konflikt dauern? Steht in der Ukraine ein Partisanenkrieg bevor? Welche Lösung kann es für diesen Konflikt überhaupt geben?

Herr Prof. Dr. Neitzel, wie schätzen Sie den Erfolg des russischen Angriffs auf die Ukraine militärisch ein? Zu Beginn sah alles nach einem schnellen russischen Sieg aus. Welche Fehler haben die Russen begangen?

Die Russen haben den Widerstandwillen der Ukrainer unterschätzt, sie haben nicht erkannt, dass Kiew sehr gut über das Kommende informiert war und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen konnte. Als der Überraschungsangriff auf Kiew gescheitert war, haben die Russen große Probleme mit der Führung komplexer Großoperationen gehabt - und sie haben die Rechnung ohne das Wetter gemacht. Die Schlammperiode zwang die Panzer auf die Straßen, wo sie leicht anzugreifen waren.

Wird die russische Armee in der Lage sein, die momentan besetzten Gebiete zu halten?

Die ukrainische Armee ist meines Erachtens nicht in der Lage, die russischen Streitkräfte von ihrem Territorium zu vertreiben. Verteidigen ist das Eine, Gegenoffensiven das Andere. Die Ukrainer haben bislang mit hoher Moral gekämpft, sie haben unter Ausnutzung des Raumes den Vormarsch der Russen verzögert und dann weitergehend zum Stillstand gebracht. Nun ist der russische Generalstab weit mehr in die Operationsführung involviert, als noch Ende Februar/Anfang März. Die Kräfte werden auf einen engen Raum konzentriert, wo sie ihre Feuerkraft voll entfalten können. Der Krieg entwickelt sich zu einer Abnutzungsschlacht, bei der die Ukraine momentan am kürzeren Hebel sitzt, weil der Westen so langsam Waffen liefert. Meines Erachtens werden die russischen Streitkräfte auf absehbare Zeit die von ihnen eroberten Gebiete halten können. 

Werden die Ukrainer einen Partisanenkrieg beginnen?

Einzelne Anschläge gibt es ja schon. Ich rechne aber nicht mit einem großangelegten Partisanenkrieg. Dafür ist das Gelände zumeist auch zu ungünstig. 

Könnten die Ukrainer durch Partisanenkriegsführung  die besetzten Gebiete zurückgewinnen?

Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Die Ukraine ist nicht Afghanistan. Zudem wird die militärische Wirkung von Partisanenoperationen zumeist überschätzt. Man darf nicht vergessen, das eine Partisanenkriegführung fast immer zu enormen Opfern auf Seiten der Zivilbevölkerung führt. Verluste und Erfolge stehe meist nicht in einen vertretbaren Verhältnis zueinander. Es mag zivilen Ungehorsam geben, aber die Befreiung muss von außen kommen - sei es mit militärischen oder mit diplomatischen Mitteln.

Es wird von verschiedenen Kriegsverbrechen der russischen Armee - etwa aus Butscha - berichtet. Ist es historisch gesehen überhaupt realistisch, dass Kriegsparteien jemals einen "sauberen" Krieg führen werden?

Einen sauberen Krieg gibt es nicht, aber es gibt natürlich ein unterschiedliches Maß an Kriegsverbrechen. Die Frage ist also nicht ob Kriegsverbrechen geschehen, sondern wie häufig und in welchem Umfang. In der Ukraine sehen wir ein beachtliches Ausmaß an illegitimer Gewalt - was leider in den Kriegen Russlands der vergangenen 40 Jahre oft vorkam.

Wie lassen sich Genozide in modernen Konflikten verhindern?

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort, weil die Ursachen von Genoziden doch sehr unterschiedlich sind. Es spielt natürlich eine Rolle,wo genozidale Verbrechen stattfinden und wer die Akteure sind. In manchen Konfliktregionen, z.B. in Afrika, hat die Weltgemeinschaft die Möglichkeit über diplomatische und wirtschaftliche Hebel deeskalierend zu wirken. In anderen Fällen hilft nur die militärische Intervention - denken wir an Bosnien. Nach Ruanda und Srebrenica kam die Idee auf, dass es eine Responsibility to protect für die Weltgemeinschaft gibt. Doch es stellt sich die Frage, wer die Bereitschaft hat, dann auch zu intervenieren, wenn es zum Äußersten kommt. Deutschland, dass muss man deutlich sagen, war immer ein Riese beim Reden aber ein Zwerg, wenn es darum ging zu handeln. Da muss man nur auf den Syrienkonflikt schauen.

Welche Szenarien sehen Sie für den weiteren Fortgang des Konfliktes? Wird die Ukraine so instabil wie Afghanistan, Irak etc.?

Das glaube ich nicht. Die ukrainische Gesellschaft ist durch den russischen Angriff zusammengerückt, sie hat viel zivilgesellschaftliches Engagement gezeigt und Bereitschaft, für die gemeinsame Sache zu kämpfen. Der Krieg hat die Herausbildung einer ukrainischen Identität - und zwar unabhängig von der Muttersprache - erheblich gefördert. Die Lage ist also eine ganz andere als im Irak oder in Afghanistan. Ich glaube allerdings, dass der Konflikt mit Russland noch lange andauern wird und die entscheidende Frage ist, ob Kiew genug Unterstützung aus dem Westen erhält um dies auf lange Sicht durchzuhalten.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Neitzel, wir danken Ihnen für das Interview und Ihre Einschätzung der Lage.

Das Interview führten für Lagebild Sicherheit Prof. Dr. Christian Schultz und Dr. Christian Hübenthal


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