Alfons Mais: „Ich habe es als meine Pflicht angesehen, die Dinge noch einmal auf den Punkt zu bringen!”

Kalenderwoche 27 // Militärische Perspektive

Generalleutnant Alfons Mais trägt als Inspekteur des Heeres die Verantwortung für über 60.000 Soldatinnen und Soldaten. In der Woche des russischen Angriffes auf die Ukraine erlangte er schlagartig Bekanntheit durch die „Blank-Aussage“, mit der er in aller Deutlichkeit auf die Ausstattungsdefizite der Bundeswehr hinwies – und Gehör bei Politik und Öffentlichkeit fand. Lagebild Sicherheit hat General Mais für ein Interview gewinnen können und gefragt, was er über die „Zeitenwende“ denkt, welche Lehren das Militär aus dem Ukraine-Krieg ziehen kann und welche Aufgaben der Bundeswehr künftig an der Ostflanke bevorstehen.

Mit Beginn des Krieges in der Ukraine erlangten Sie schlagartig Bekanntheit durch die „Blank-Aussage“. Damit haben Sie vermutlich die Worte „bedingt abwehrbereit“ abgelöst. Hat Sie die Resonanz auf einen LinkedIn-Post überrascht oder waren so klare Worte nötig?

Die Reaktion hat mich schon überrascht! Ich habe nicht mit dieser Verbreitung gerechnet, denn darauf war der Post nicht angelegt. Dazu hätte ich mir ein anderes Medium ausgesucht. Ich habe diese Bewertung unter dem doppelten Eindruck der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende davor und den Gesprächen mit vielen Soldatinnen und Soldaten an unserem „Tag der Werte“ am 23. Februar getroffen.

Nie habe ich die Verantwortung für die rund 60.000 Heeresangehörigen und ihre Auftragserfüllung mehr gespürt, als in dieser Woche. Wer es kommen sehen wollte, konnte es sehen, seit Jahren! Wir haben im Heer immer wieder intern auf die Lücke zwischen Ambition und Realität hingewiesen. Bereits seit 2014 hat es im Heer ein Umdenken und eine Re-Fokussierung in Richtung Landes- und Bündnisverteidigung gegeben. Was dafür erforderlich ist hat das Heer, habe ich persönlich immer deutlich kommuniziert. Klarheit und Wahrheit verlange ich von jeder und jedem im Heer! Der 24. Februar war dann leider für manche eine bittere Bestätigung und für andere eine böse Überraschung. Daher ist mein LinkedIn-Post in dieser Situation natürlich als sehr klar wahrgenommen worden. Aber nochmal, die Hinweise und Einschätzungen aus dem Heer gab es schon vorher. 

Und zu Ihrer zweiten Frage: Es war ein Beitrag, den ich bei aller Emotionalität, die wir alle an diesem Tag verspürt haben, bewusst gesetzt habe. Ich habe es als meine Pflicht angesehen, die Dinge noch einmal auf den Punkt zu bringen. In dem zahlreichen Feedback, dass ich auch aus der Truppe erhalten habe, wurde das mit großer Mehrheit auch so empfunden.

Die Aussage wurde in der Diskussion breit genutzt. Was genau haben Sie mit Ihrer Aussage gemeint? 

Die mandatierten Einsätze in Afghanistan, Mali und Irak, aber auch die neuen NATO-Aufgaben seit 2015 (z.B. die Battlegroup in Litauen) zeigen, dass das Heer mehr als gut in der Lage ist, mittel- und langfristige Aufträge sicher, kontinuierlich und planbar zu bestreiten. Darauf ist unsere heutige Struktur ausgelegt und sind unsere Prozesse optimiert. Ich bin sehr stolz und dankbar was unser Heer in diesen Aufträgen jeden Tag, rund um die Uhr unter schwierigsten Bedingungen leistet. Was wir bis auf wenige Ausnahmen aber komplett aus dem Auge verloren haben, ist eine durchgehende, breit angelegte Einsatzbereitschaft von Großverbänden aus dem Stand heraus, dann wenn es schnell gehen muss. Und genau so will ich die Aussage „blank“ verstanden wissen. Sie bezog sich in erster Linie auf unsere aktuell nur eingeschränkte Fähigkeit auf Großverbandsebene ad hoc aus der Kaserne in ein Krisengebiet zu verlegen und im Bedarfsfall das Gefecht der verbundenen Waffen nach kurzer Vorbereitungszeit aufnehmen zu können. Genau die Fähigkeit also, die nach den jüngsten Beschlüssen der NATO wieder dauerhaft von uns verlangt werden, um damit unseren Beitrag zur Abschreckung im Bündnis glaubhaft mit Kräften zu hinterlegen. Es geht um die Fähigkeit, in abgestuften Zeitfenstern Brigaden und Divisionen hochzufahren. Wir nennen das Kaltstartfähigkeit, für die wir kohäsive und einsatzbereite Brigaden und Divisionen des Heeres brauchen. Dazu waren wir am 24. Februar nicht in der Lage und das wird sich jetzt wieder ändern!

Der Krieg in der Ukraine ist ein sehr gut dokumentierter Konflikt. Welche Lehren über die russische Armee und deren Fähigkeiten leiten Sie aus dem Ukraine-Krieg ab?

Zunächst: Gut dokumentiert heißt nicht zwingend gut analysiert – wobei bei der Frage der Dokumentation nicht vergessen werden sollte, dass alle Kriegsparteien ein eigenes Interesse an ihrer Version der Geschehnisse haben.

Ich halte mich mit Urteilen sehr zurück, weil noch zu viel im Nebel des Krieges verborgen ist. Eines lässt sich meiner Ansicht nach jedoch fraglos feststellen: Landstreitkräfte sind der Gradmesser, an dem militärische Fähigkeiten, Erfolge und Misserfolge in Mitteleuropa auch zukünftig gemessen werden. Täglich geht es neben dem unsäglichen Leid, welches Putins Truppen über die Ukraine bringen, um die Gebietsgewinne und -verluste sowie der Kämpfe zu Land. Auch im 21. Jahrhundert wird die Entscheidung am Ende durch die Landstreitkräfte herbeigeführt. Das Heer operiert dort, wo die Menschen leben, inmitten der Bevölkerung. Dies wird uns jeden Tag mit all seinen fürchterlichen Konsequenzen vor Augen geführt. Einige Aspekte werden in diesem Krieg aber schon jetzt offensichtlich: Ohne belastbare Einsatzlogistik weit vorne geht nichts! Die Bedrohung durch Drohnen aus dem bodennahen Luftraum wächst kontinuierlich. Gleichzeitig ist die Nutzung der dritten Dimension – Luft – stark eingeschränkt! Wirkung, insbesondere Artillerie, ist ein dominierender Faktor. Führungs- und Kommunikationsfähigkeit haben eine „Multiplier“ – Funktion. Operationelle Flexibilität ist nur durch Dezentralisierung und Delegation von Entscheidungsverantwortung sicherzustellen. Auswerten, Lernen und Anpassen sind auch in einem laufenden Krieg notwendige Prozesse.

Das sind nicht unbedingt alles neue Punkte, aber für uns doch die ein oder andere Bestätigung bereits erkannter Lücken oder längst vorhandener Fähigkeiten. Wie gesagt, ich möchte mich noch nicht festlegen, bin mir aber sicher, dass die Beobachtungen, die wir derzeit aus dem militärischen Blickwinkel machen, nach ihrer tiefen und fundierten Analyse Einfluss auf das Denken und die Modernisierung im Heer haben werden.

 Mit der Zeitenwende scheint die Öffentlichkeit ihren Blick auf die Bundeswehr zu verändern. Bemerken Sie auch eine Veränderung der Stimmung im Heer?

Bei meinen vielen Besuchen und Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten im Heer fällt mir vor allem die ungeheure Professionalität und der Wille auf, sich auf die neuen Herausforderungen einzustellen. Ich spüre den Geist und die Haltung jeden Tag ein bisschen besser werden zu wollen. Es gibt eine Aufbruchsstimmung, einen Anpassungs- und Veränderungsdruck, der aus der Erkenntnis rührt, dass oben angesprochene Grunddefizit anzugehen. Und das nicht erst seit dem 24. Februar diesen Jahres, sondern schon weit vorher. Es fehlten aber für die Zielerreichung häufig die materiellen, personellen und auch strukturellen Voraussetzungen in den Einheiten und Verbänden des Heeres. Mit dem beschlossenen Sondervermögen von 100. Mrd Euro entstehen jetzt die Spielräume, die Lücke zur Vollausstattung mehr zu schließen. Strukturell haben wir eine Binnenoptimierung unserer Einsatzkräfte eingeleitet, um die Brigade-Verpflichtungen in Litauen und die Division für die NATO zu ermöglichen. Das wird uns alle im Heer stark fordern, jeden einzelnen, aber ich bin sicher, wir werden das gemeinsam hinbekommen.

Sie haben das 100 Mrd Sondervermögen Bundeswehr bereits angesprochen. Was außer Geld benötigt die Bundeswehr – das Heer – noch?

Geld allein ist nicht alles. Militärisch bekommt es erst dann einen Mehrwert, wenn wir es auch sinnvoll einsetzen. Im Falle des Heeres bedeutet das, dass am Ende einsatzbereite Brigaden und Divisionen stehen müssen, die über alle erforderlichen Fähigkeiten verfügen. Hier ist das Sondervermögen Bundeswehr ein wichtiger und unverzichtbarer erster Schritt. Doch der nun eingeschlagene Weg muss über eine langfristige und verlässliche Finanzierung im Verteidigungshaushalt auch weiter gegangen werden. Ein weiterer wichtiger Pfeiler ist die Struktur. Ich bin daher sehr dankbar, dass ich die Freigabe erhalten habe, unsere Binnenstruktur so anzupassen, dass wir das Prinzip „Organize as you fight“ wieder in den Vordergrund stellen können. Dabei geht es vor allem um drei Dinge: erstens die Verschlankung der Brigaden, damit diese agiler werden; zweitens die Reinvestition der Optimierungsgewinne in die Aufstellung von Divisionstruppen, damit diese Führungsebene auch faktisch wieder zu einer operationellen Rolle befähigt wird; und drittens eine bessere Balance zwischen der Kampftruppe und den erforderlichen Unterstützungskräften, damit wir das Heer in seiner gesamten Breite wieder einsatzfähiger machen.

Die neue Erfahrung für viele in der Truppe wird sein, dass es nicht wie in der jüngeren Vergangenheit um die Auflösung von Verbänden und Standorten geht, sondern an vielen Stellen um das genaue Gegenteil. Aber auch das wird Veränderung in der Truppe bedeuten, einhergehend mit Unsicherheit und Informationsbedarf, aber ich nehme wahr, dass die Notwendigkeit für diesen Schritt in der Truppe erkannt ist und mitgetragen wird. Dennoch: Information und Veränderungsmanagement werden „die“ Führungsaufgaben der nächsten Jahre.

Neben Material und Struktur sehe ich ergänzend die Notwendigkeit, sich auch unseren Personalkörper genauer anzuschauen. Hier müssen wir Wege finden, drohender Überalterung, bereits faktischer Kopflastigkeit und unflexiblen Werdegängen entgegen zu wirken, um uns für die notwendige Einsatzfähigkeit der Zukunft richtig aufzustellen. Hier schließe ich ausdrücklich das Thema Reserve mit ein. Ich würde mich freuen, wenn wir hierzu in eine noch intensivere Diskussion eintreten könnten.

Schweden, Finnland, Baltikum, – auf welche Szenarien stellt sich das Heer aktuell für die Zukunft ein?

Zunächst freue ich mich sehr, dass der Beitritt unserer Freunde in Schweden und Finnland nun tatsächlich Realität wird. Ein riesiger Schritt vorwärts in der gemeinsamen Verteidigung unserer Werte, den wir auf der Grundlage bereits seit langem bestehender Kooperationsbeziehungen auch zwischen unseren Heeren mit noch mehr Substanz füllen werden.

Im Schatten des russischen Krieges in der Ukraine liegt derzeit unser Fokus im Heer jedoch folgerichtig auf der NATO-Ostflanke und damit der Bedrohung unserer dortigen Verbündeten. Das Heer hat hier schnell reagiert: Wir leisten mit der „enhanced Forward Presence Battlegroup“ in Litauen, die wir nochmals verstärkt haben, den Beiträgen zum Multinationalen Korps Nordost und nun mit der „enhanched Vigilance Activity“ in der Slowakei, sichtbare und anerkannte Beiträge. Bis Ende 2024 werden wir mit der PzGrenBrig 37 den VJTF (L) Auftrag wahrnehmen. Darüber hinaus stellen wir uns, wie bereits angedeutet, darauf ein, eine aufwuchsfähige Brigade zusätzlich zu unserer eFP-Präsenz in Litauen bereitzustellen. Zudem werden wir für die NATO ab 2025 eine Division mit einem Divisionshauptquartier einschließlich Divisionstruppen und zweier mechanisierter deutscher Brigaden im Rahmen der veränderten NATO-Planungen zur Verfügung stellen.

Auch wenn der Schwerpunkt absehbar im Baltikum bei unseren Verbündeten liegen wird, heißt das nicht, dass wir unsere weiteren Aufgaben aus den Augen verlieren. Das Heer wird auch in Zukunft die Forderung zur permanenten Bereitstellung eines Evakuierungsverbandes für das Nationale Risiko- und Krisenvorsorge ebenso unverändert verlässlich erfüllen, wie wir unseren Einsatzverpflichtungen im Rahmen des Internationalen Krisenmanagement nachkommen werden. Was die unmittelbaren Auswirkungen der NATO-Erweiterung in Skandinavien angeht, ist es noch zu früh, um die Auswirkungen in Gänze abschätzen zu können. Dennoch ist davon auszugehen, dass wir in einem 360 Grad Ansatz auch immer Kräftedispositive an den Flanken der NATO werden einsetzen können müssen. In diesem Kontext weise ich gerne auch noch auf die anstehenden neuen Verpflichtungen im Rahmen des Strategischen Kompass der EU hin, die wir auf keinen Fall vernachlässigen dürfen.

Sehr geehrter Herr General Mais, wir danken Ihnen für das Interview und Ihre Einschätzung der Lage.


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