Die Logik softwarezentrierter Rüstung
Schwerpunkt-Analyse // Software in Waffensystemen – die logische Herleitung
Ein Waffensystem ohne Software scheint heute kaum denkbar. Software unterstützt sowohl bei der Erhebung als auch Verarbeitung von Informationen, wie auch bei der Steuerung der Systeme selbst.
Diese Analyse von Dr. Christian Hübenthal erschien auf der Plattform Europäische Sicherheit und Technik.
Beim Einsatz von Software handelt es sich um eine logische Evolution im Bereich militärischer Systeme, schaut man in deren Historie. In der Kommunikation der Streitkräfte wurden optische und akustische Signale von der Antike an eingesetzt und im 19. und 20. Jahrhundert durch die Einführung von Telegraphie, Funk und Radar ergänzt. In der Steuerung von Waffensystemen lief die Entwicklung von der Schätzung des Kanoniers über den Einsatz der Karte bis zum Tablet in Händen des Einheitsführers. Entsprechend dem technischen Stand wurden die einzelnen Aufklärungs- und Wirksysteme jeweils mit aktueller Technologie ergänzt – in der jüngeren Vergangenheit ist diese zunehmend software-basiert und nutzt künstliche Intelligenz.
Software in Waffensystemen oder das „Waffensystem Software“?
Technologiegetrieben steht nun ein Paradigmenwechsel nicht nur im Einsatz, sondern auch in der Entwicklung von Aufklärungs- und Wirksystemen vor der Tür der Verteidigungsindustrie. Die Entwickler sprechen von Software-Defined Defence (SDD). Als Marketingbegriff wäre dies schnell ausgesprochen, hier ist die Szene jedoch bereits einiges gewohnt. Die Worte Future, High, Multi, Digital und Combatsystem wurden in der Vergangenheit bereits stark ausgereizt. Daher stellt sich die Frage: Stehen wir mit SDD vor einem wirklichen Evolutionsschritt? Die vorweggenommene Antwort lautet: Ja. SDD ist nicht nur ein Zukunftsszenario vom grünen Tisch, sondern in den USA und China ein bereits angewandtes Prinzip. Das BMVg veröffentlichte immerhin im November 2023 ein Software- Defined Defence Positionspapier. Darüber hinaus liefert aber vor allem die zivile Industrie starke Indizien, dass Veränderungen wie in der Kommunikationsund Automobilindustrie für die Verteidigungsindustrie anstehen. Im Folgenden wird SDD zunächst erklärt, dann werden Parallelen aus der zivilen F&E-Welt zeigen, dass mit höchster Wahrscheinlichkeit auch die Verteidigungsindustrie vor einem Fokuswechsel von Hardware zu Software steht.
Software-Defined Defence gegenüber hardwarezentrierter Entwicklung
Software-Defined Defence beschreibt zunächst eine Kombination aus Hardund Software. Bisher wurde eine Anforderung an die Hardware (z. B. einen Kampfpanzer oder Hubschrauber) gestellt. Um die Effektivität der Hardware zu verbessern, wurde diese durch notwendige Software ergänzt und je nach Notwendigkeit aktualisiert. Ebenfalls nach Notwendigkeit wurden Schnittstellen hinzugefügt, um beispielsweise einen besseren Informationsaustausch zwischen einzelnen Systemen zu erreichen (Erhöhung der Interoperabilität). Der Begriff SDD bedeutet eine umgekehrte Denkreihenfolge, bei der das gesamte Funktionsspektrum des Waffensystems um die Software herum aufgebaut ist. Ziel ist ein Systemverbund, ein System-of-Systems (SoS). Dieser Verbund aller verfügbaren Systeme gehorcht dann einer übergreifenden militärischen Steuerung auf dem Gefechtsfeld – so die Theorie.
Wie wird SDD aufgebaut?
Um das beschriebene System-of-Systems aufzubauen, wird die Software jedes einzelnen Systems selbst in einem ersten Schritt um eine konkrete Fähigkeitsforderung aufgebaut. Die Designentscheidungen über die Hardware, also den Panzer, das Flugzeug, das Schiff oder den Verbund der verschiedenen Plattformen, werden erst im Anschluss getroffen. Weiter wird Software nach dem SDD-Ansatz in einer modularen Architektur konzipiert, jedes System muss also vollständig kompatibel mit jedem anderen System sein. Somit steht auch bei SDD die Fähigkeitsanforderung an erster Stelle, wie früher beim hardwarezentrierten Ansatz. Doch nun wird diese Anforderung zuerst in eine Software übersetzt. Diese wird nicht als geschlossenes System, sondern als eine offene, modulare Architektur programmiert, mit standardisierten Schnittstellen, die auf jedwede notwendige Hardware zugreifen kann. Diese alternative Vorgehensweise der Entwicklung von Rüstungsgütern klingt nicht nur komplex, sie ist es auch. Doch nach Ansicht von Experten wird künftig kein Weg um diese Vorgehensweise herumführen. Sven Heursch, Direktor bei der Unternehmensberatung Accenture und früher selbst Oberst i. G.: „In modernen Rüstungsprojekten ist der geforderte System-of-Systems-Ansatz ohne eine Umsetzung des SDD-Ansatzes kaum möglich. Die Komplexität und Fehleranfälligkeit tief integrierter Waffensystemverbünde lässt sich nur noch durch einen stringenten Softwareansatz beherrschen, bei dem das digitale Backbone im Zentrum der Entwicklung steht. Auch verteilte KI-Systeme sind schon jetzt so komplex im Management, dass sie von Beginn an in der Architektur mitgedacht werden müssen.“
Welche Vorteile bietet der SDD-Ansatz?
Während die fest verbaute, häufig von einem Hersteller kontrollierte Hardware bereits in erheblichem Maße ausgereizt wird, bieten softwaregetriebene Funktionalitäten noch ein hohes Potenzial zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems über den gesamten Lebenszyklus hinweg. Hardware kann über Software neue Fähigkeiten erhalten und dies ohne den komplexen, langwierigen und teuren Austausch der gesamten Hardware samt ihrer fest eingebauten Software. Damit könnte SDD Gesamtsystemen durchaus eine längere Lebensdauer verleihen und das Einsatzspektrum stetig erweitern. Zivil kann man dieses System bei Mobilfunkgeräten beobachten, welche durch Updates länger eingesetzt werden können. Das Gerät verändert sich physisch nicht, wohl aber die Software im Gerät, die zum Teil wöchentlich um Fähigkeiten und Standards ergänzt wird.
Vorteil Marktverfügbarkeit und längere Nutzungszeit
Vermutlich kann somit künftig häufiger auf marktverfügbare und dann modifizierbare Hardware zurückgegriffen werden. Hier kann man eine Parallele zum Chiptuning bei Motoren ziehen: Der gleiche Motor kann durch andere Software eine andere Performance liefern. Bildet Software also nicht eine Notwendigkeit, sondern den Kopf und die Hardware die Hand eines Waffensystems, hat dies erhebliche Vorteile. Updates und Upgrades können laufend und schnell vorgenommen werden. Waffensystemen steht eine iterative Weiterentwicklung offen, im Gegensatz zur bisherigen Praxis des Einzelupdates für ein System. Entwicklungszeiten für Updates und Upgrades im SDD-Ansatz sind kürzer, die Kosten geringer und eine längere Nutzungszeit eines Waffensystems bedeutet spätere technologische Alterung. Mögliche Anwendungen für SDD gibt es in fast allen Bereichen der Streitkräfte. Von der IT-Seite aus benannt wären diese: Datengewinnung und Datenfusion (Aufklärung, Nachrichtengewinnung), Kommunikation (Führung), Anwendung (Gefecht der verbundenen Waffen) bis zu Netzwerk und Ressourcen (Kampfunterstützung). Unbemannte und bemannte Systeme werden sich dabei erheblich besser koordinieren können, der äußerst wirksame Einsatz von Schwärmen mit Hardware wird zu einer echten Option.
Welche Herausforderungen und Probleme entstehen durch SDD?
Grundlage der obigen Möglichkeiten ist stets eine „stehende Leitung“ der Entwickler zur Software. Dies bedeutet in den meisten Fällen eine Cloud-Anbindung aller Waffensysteme für die laufende Anpassung und Verteilung der Systemsoftware der Waffensysteme. Nur so kann ein komplexer Systemverbund softwareseitig konsistent gehalten werden und die Integration aller Systeme im angestrebten System-of-Systems stattfinden. Wie in allen digitalen Systemen entstehen so naturgemäß neue Cybersicherheitsrisiken. Befürworter des SDD-Ansatzes stellen dem wiederum entgegen, dass man diesen Risiken durch die modulare Architektur und eine stehende Datenleitung auch schneller begegnen kann, als dies bisher der Fall ist. Gleichzeitig entstehen Herausforderungen im Bereich der Normen und Standards. Diese müssen miteinander in Einklang gebracht werden, international und in Bündnissen. Die Komplexität der Systeme wird steigen. Je nach Aufbau könnte ein Softwarefehler weitreichende Konsequenzen für eine Vielzahl von Akteuren nach sich ziehen. Nicht digitale Systeme müssten außerdem in SDD integriert werden. Insofern ist SDD keinesfalls ein evolutionärer Selbstläufer.
Erfolgsaussichten für SDD
Dass SDD trotz seiner Herausforderungen ein erfolgversprechender Denkansatz ist, lässt sich bereits an konkreten Beispielen ablesen. So gibt es bereits erste Rüstungsprojekte mit entsprechenden Anforderungen: Die Multi-Domain Combat Cloud und der „Sensor-Data-Fusion-Verbund“ wie wir sie in ersten Ansätzen bereits im Kontext der Europäischen Großprogramme Future Combat Air System (FCAS) und Main Ground Combat System (MGCS) sehen, basieren im Grundsatz auf den Gedanken hinter SDD. Dr. Jürgen Bestle, CTO der Hensoldt AG, sieht im SDD-Paradigma einen wesentlichen Hebel, das Produktportfolio schneller an sich ändernde Anforderungen anzupassen: „Mit Software-definierten Systemen lassen sich die Möglichkeiten hoch-performanter Hardware agil nutzen. Es werden genau die Fähigkeiten ‚programmiert’, die benötigt werden. Und da die Bedarfe sich oftmals schneller ändern, als Hardware- Technologie folgen kann, können System-Fähigkeiten dann in den kürzeren Zeiträumen von Software-Entwicklung erweitert und angepasst werden. Unsere Produkte und Lösungen werden dann Hardware-enabled und Software-defined sein. Die Hardware bestimmt die prinzipiellen Möglichkeiten, mit Software werden sie auf agile Weise realisiert.“
Der Stand der Industrie und die Hinweise zur F&E-Evolution
Aktuell befindet sich die Verteidigungsindustrie in einer vergleichbaren Situation wie die Hersteller von Mobilfunkgeräten in den 2000er-Jahren. Man kämpft darum, den Standard zu setzen, wie einst Blackberry, Apple, Google, Nokia, Microsoft hofften, die beste Vernetzung mit Apps und anderen Geräten herzustellen und über kritische Marktmacht eine Gatekeeper- Funktion zu erreichen. Dieser Kampf um das Betriebssystem der Systeme ist noch lange nicht zu Ende. Doch beweisen die Streitkräfte der Ukraine schon den hohen Nutzen eines datenzentrierten Ansatzes: Starlink wurde hier zu einer Art Rückgrat der sonst erheblich gestörten Kommunikation der Ukrainer. Zahlreiche Informationen wurden zusammengeführt, koordinierende Ebenen entfielen, alle Waffensysteme nutzten den gleichen Kommunikationsweg. Dabei handelt es sich wohlbemerkt um einen Ansatz, SDD würde noch weiter gehen. Im Ergebnis würde man z. B. eine Drohne per Mausklick von einer Aufklärungsdrohne zur Kampfdrohne umfunktionieren können. Weiter beweisen zivile Beispiele den Erfolg von SDD: SAP, Apple und Microsoft zeigen, dass Software die Entwicklung treibt. Dabei zeigt Apple sehr gut den Weg auf, welchen Forschung und Entwicklung in der SDD gehen werden: Apple baut im Wesentlichen ein Betriebssystem, welches stetig den Anforderungen des Nutzers entsprechend weiterentwickelt wird und Apps hierzu anbietet. Die Hardware von Apple bildet dabei im zweiten Schritt den Touch Point des Nutzers zu Software. Sie können auf ihre Apps vom Macbook, iPad, iPhone oder, da man dies für notwendig befunden hat, von der Hardware Apple Watch zugreifen. Auch hier werden Anforderungen definiert, in Software umgesetzt und anschließend wird die notwendige Hardware gebaut. Die Automobilindustrie war ähnlichen Umbrüchen ausgesetzt. Die Anforderung komfortabler Mobilität wurde lange durch Hardware erfüllt, also durch Materialien und Motoren. Zunehmend bildet jedoch Software den Kern der effizientere, komfortablere und sicherere Mobilität. Hersteller wie Tesla und BYD bestechen schließlich nicht durch Spaltmaße, wohl setzen sie aber die etablierten Hersteller in Sachen Software unter Druck.
Was folgt daraus?
Der Software-Architekt steht künftig stärker im Fokus des Rüstungsprojektes. Angesichts der Möglichkeiten der Fähigkeitserweiterung erscheint diese Sichtweise logisch. Erste Projekte der Verteidigungsindustrie und zivile Beispiele legen nahe, dass SDD ein hohes Zukunftspotenzial hat. Allerdings gilt es dann für Streitkräfte, ihre Forderungs- und Zertifizierungsprozesse an diese neuen Chancen der SDD anzupassen. Sonst wird die Industrie diesen Ansatz nicht erfolgreich umsetzen können.
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