Sönke Neitzel: „Die entscheidende Frage lautet: Ist Boris Pistorius ein mutiger Mann?”
Kalenderwoche 36 // Wissenschaftliche Perspektive
Prof. Dr. Sönke Neitzel ist Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Militärgeschichte in Deutschland. Aus dem Blick in die Geschichte leitet er international gefragte Szenarien und Analysen ab. Lagebild Sicherheit hat mit ihm über die Zeitenwende gesprochen: Wie schätzt er den weiteren Verlauf des Krieges in der Ukraine ein? Welche Vergleiche zu früheren Konflikten erscheinen ihm sinnvoll? Steht uns nun eine Zäsur des Krieges durch Drohnen bevor? Wie muss sich die Bundeswehr verändern, um zukunftsfähig zu werden?
Herr Prof. Dr. Neitzel, nach der Wagner-Meuterei, dem mutmaßlichen Tod Prigoschins und den andauernden militärinternen Machtkämpfen in Russland sehen viele das Land als geschwächt. Doch bisher konnte die Ukraine den Sommer nicht nutzen, um die eigene Offensive zum Erfolg zu führen. Was ist Ihre Einschätzung?
Ich kann keineswegs erkennen, dass Russland implodiert und bald der Krieg vorbei ist. In den deutschen Kommentaren höre ich viel Wishful-Thinking. Ich meine aber, dass wir zu wenig zuverlässige Informationen über die Verhältnisse in Russland haben. Es wirkt aus westlicher Sicht so, dass die Wagner-Meuterei und die sonstigen Unruhen innerhalb des russischen Militärs den Eindruck vermitteln, Putin habe Russland nicht mehr im Griff. Von den Stimmen, die sich in Deutschland dahingehend äußern, sehe ich aber wenig Expertise bezüglich der Söldner-Gruppen, ihrer Rolle in Russland und im Zusammenspiel mit der russischen Armee. Und der gewaltsame Tod Prigoschins deutet nicht auf eine Schwächung Putins hin – im Gegenteil.
Was wir von hier jedoch alle klar sehen können, ist dass die Ukrainer von der Meuterei offenbar im Vorfeld nicht viel wussten. Das Militärkommando in Rostow war einen Tag lang außer Gefecht, die Ukrainer waren aber offenbar nicht in der Lage dies auszunutzen. Auch den Abzug der Gruppe Wagner aus Bachmut konnte man nicht ausnutzen und die Stadt zurückerobern. Momentan sehe ich an der Front keinen Einfluss auf diese diplomatisch ausgedrückt seltsamen Vorgänge und das ist am Ende entscheidend.
Aktuell befinden sich die Ukraine und Russland nach weit über einem Jahr Krieg in einer Art Patt-Situation. Können Sie sich erklären, warum der russischen Armee angesichts ihrer Größe und offensichtlich noch gegebenen Handlungsfähigkeit weder zu Beginn des Krieges noch in der Folge der Durchbruch gelungen ist?
Zunächst war der Krieg als Spezialoperation wie auf der Krim 2014 geplant. Spezialoperationen können schiefgehen. Wenn eine Operation auf Überraschung und Schockwirkung aufgebaut ist und diese ausbleibt, dann haben Sie ein Problem. Als Historiker ziehe ich den Vergleich etwa zu der deutschen Fallschirmjägeroperation auf Kreta im Zweiten Weltkrieg. Die Operation war ebenfalls auf Überraschung aufgebaut. Die dort stationierten Neuseeländer waren aber nicht überrascht, sondern vorbereitet. So wurde die Operation zum Desaster, auch wenn am Ende die Einnahme Kretas knapp gelang. Ganz offensichtlich wussten die Ukrainer auch gut Bescheid über die russischen Pläne und waren gut vorbereitet. Damit stand die ganze Anlage dieser Operation auf tönernen Füßen.
Es muss noch aufgearbeitet werden, wie nahe die Russen an einem Erfolg waren. Ich glaube aber, dass sie zu jeder Zeit weit davon entfernt waren. Die russische Führung hat außerdem 2022 nicht wahrhaben wollen, dass die Ukrainer, anders als 2014, kämpfen werden.
Sie zogen gerade bereits historische Parallelen. Der Ukraine-Krieg wird andauernd medial mit anderen Konflikten verglichen. Zunächst wurde der Zweite Weltkrieg ins Spiel gebracht, dann der Erste Weltkrieg, Vietnam, Afghanistan. Wie bewerten Sie als Historiker diese Vergleiche und welchen Vergleich würden Sie ziehen?
Geschichte wiederholt sich nicht. Dieser Krieg ist mit keinem identisch, aber es gibt in einzelnen Bereichen natürlich schon Parallelen. In historischer Perspektive sieht man meist eine Evolution of Military Affairs, keine Revolution of Military Affairs. Aus einzelnen Bestandteilen von Konflikten bildet sich etwas Neues. Die Rolle der Artillerie zum Beispiel ist ein Element des Ersten Weltkrieges, das bis in den aktuellen Konflikt weist, allerdings nun in Kombination mit Drohnen. Insofern sind viele dieser Vergleiche nicht falsch. Sie sind aber auch nicht unbedingt vollständig. Um Ihre Frage zu beantworten: Vieles in diesem Konflikt erinnert mich eher an den Konflikt Iran-Irak 1980 bis 1988.
Sie sprechen das Thema Drohnen an. Sind Drohnenkriegsführung, automatisierte Kriegsführung und unmanned Warfare nicht doch kleine Revolutionen des Krieges oder zumindest eine Zäsur?
Ich würde es eher als eine neue Dimension des Gefechts der verbundenen Waffen bezeichnen. Nun muss man die Dimensionen „Cyber“ und „Drohnen“ zu den bisherigen Dimensionen hinzudenken. Das volle Potential der neuen Wirksysteme sehen wir noch gar nicht. Dies ist übrigens nicht ungewöhnlich. Das Maschinengewehr haben die Franzosen schon 1870/71 eingeführt und der Artillerie zugeordnet. Es wirkungsvoll einzusetzen, hat bis zum Ersten Weltkrieg gedauert.
Gleichwohl nimmt die Geschwindigkeit, mit der neue Waffen eingesetzt werden exponentiell zu. Insofern finde ich Ihren Begriff der Zäsur besser. Drohnen sind erstmal eine Ergänzung und ja gar nicht mehr so neu. Schon der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien hat gezeigt, dass es ohne diese neue Ergänzung nicht mehr geht. Wir erleben nun, dass dieses Waffensystem zu Aktion und Reaktion führt. Die Ukrainer konnten mit Drohnen keine richtige Überlegenheit erreichen, weil die Russen ihrerseits schnell damit gearbeitet haben.
Die Deutschen haben um dieses Thema jahrelang sinnlose Pipi-Langstrumpf-Debatten geführt, weil die Welt nicht mehr so ist, wie sie uns gefällt. Insofern ist die Bundeswehr hier gerade mit ihren kleinen Drohnenbestand schlicht nicht kampffähig. Käme ein Einsatzbefehl, müsste man diesen eigentlich verweigern. Ich würde gerne Herrn Mützenich und andere im linken Spektrum der SPD einmal fragen, wie sie dazu stehen, die Bundeswehr durch ihre Verhinderungshaltung beim Thema Drohnen eigentlich kampfunfähig gemacht zu haben. Nun wird mit enormen Kosten versucht zu reparieren, was man in den letzten Jahren kaputt gemacht hat – ohne jedoch den Begriff „kriegsbereit“ zu nutzen.
Vielleicht haben wir den Begriff „Kriegsbereit“ durch „Zeitenwende“ ersetzt? Damit würde ich gerne zum zweiten größeren Komplex überleiten: Wer müsste Ihrer Ansicht nach der Zeitenwende Schubkraft verleihen und was müsste passieren?
Die entscheidende Frage lautet: Ist Boris Pistorius ein mutiger Mann? Er ist der beliebteste Politiker Deutschlands. Sicherlich bisher einer der besten Verteidigungsminister Deutschlands, eine Wohltat für die Bundeswehr. Doch am Ende wird er sich daran messen lassen müssen, ob er die Streitkräfte durch eine umfassende Reform wieder kampffähig gemacht hat. Dazu reicht es nicht, einen Führungsstab einzuführen. Und besser könnte die Zeit für eine echte und sinnvolle Reform doch gar nicht sein! Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Medien, die Semantik, all das hat sich verändert. Doch geredet wird viel, entscheidend wird die Tat sein.
Welche drei Dinge müsste er tun?
Das Ministerium, den Personal- und den Rüstungsbereich müsste er reformieren. Nun steht es mir nicht zu, konkrete Ratschläge für das operative Geschäft zu geben. Wir alle wissen aber: Die Zentralisierung der Bundeswehr hat sich nicht bewährt. Das würde bedeuten, wieder die Führungsstruktur von vor dem Dresdener Erlass 2012 zu nutzen: Die SKB auflösen, den zentralen Sanitätsdienst auflösen, die Inspekteure deutlich stärken und letztlich im Heer wieder Brigaden herstellen, die ausreichende Brigadetruppen mit Sanität, Logistik und Feldjägern haben. Die Marschrichtung ist im Eckpunktepapier von 2021 ja schon angedeutet.
Dann ist klar, dass die Bundeswehr ein Personalproblem hat. Wenn keine grundlegenden Schritte eingeleitet werden, ist zu befürchten, dass die Personalstärke in Richtung 150.000 absinkt. Das weiß jeder, aber gibt es den politischen Mut, auch entsprechende Maßnahmen einzuleiten? Man könnte ein Pflichtjahr einführen, jeden Jahrgang wieder mustern und lediglich die benötigte Zahl einziehen. Man könnte die Bundeswehr Ausländern öffnen oder auch ein Milizsystem einführen, in jedem Fall die Reserve aufstocken. Die Vorschläge liegen ja auf dem Tisch. Nun muss das Kabinett entscheiden, wie es das Problem lösen will.
Gleichzeitig muss der Wasserkopf verkleinert werden. Wir haben jetzt mehr Generäle als zu Zeiten des Kalten Krieges. Das sind doch abwegige Zustände. Helmut Schmidt hat 1969/70 mehr als 50 Generale in den Vorruhestand versetzt. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben hervorragende Generale und Stabsoffiziere. Aber es wäre vielleicht doch an der Zeit, mehr klare Personalentscheidungen zu treffen, die auch ein Signal in die Truppe senden.
Kommen wir zum Bereich der Rüstung: Auch hier gibt es Dysfunktionalitäten. Die Bundeswehr erreicht Dinge mit riesigem Arbeitsaufwand und wir verlieren zu viel Energie. Ich glaube nicht, dass es reicht, mehr Geld in das System zu geben und die Vizepräsidentin des BAAINBw zur Präsidentin zu ernennen. Auch hier muss der Minister mutig sein und Unebenheiten angehen, die die Streitkräfte schon seit dem frühen Kalten Krieg behindern, Stichwort Artikel 87 a und b Grundgesetz, 25 Mio.-Vorlagen, um nur die bekanntesten Punkte zu nennen. Bekannt ist aber auch, dass das cpm – das customer product management der Bundeswehr nur zu einer Überkomplexität des Beschaffungsprozesses führt, sich so nicht bewährt hat und erheblich gestrafft werden sollte.
Abschließend möchte ich noch etwas anmerken: Das Argument, im laufenden Betrieb könne man die Bundeswehr nicht reformieren, ist keines. Dann könnte sich der Staat ja niemals reformieren. Konzerne können sich schließlich auch reformieren. Hier wird ständig ausprobiert. Hat es sich bewährt, bleibt es. Hat es sich nicht bewährt, geht es. Über die Themen Verteidigungsministerium, Personalgewinnung und Rüstung wurde immer viel geredet. Das kennen wir aber alle schon, es ist höchste Zeit, dass Grundlegendes geschieht. Was es im Einzelnen ist, das liegt ganz in der Hand des Ministers. Aber es wäre sicher ein fatales Signal, wenn lediglich hier und da ein Referat zusammengelegt würde.
Das klingt so, als sei Ihrer Ansicht nach das Zwei-Prozent-Ziel, über welches viele aktuell diskutieren gar nicht das Hauptproblem?
Man sollte schon die kritische Frage stellen, ob es reicht, in eine dysfunktionale Organisation noch mehr Geld zu geben. Und die Bundeswehr ist dysfunktional, das ist offensichtlich. Die Zwei-Prozent vom BIP braucht die Bundeswehr, keine Frage. Aber in diesen Strukturen? Mit dieser Überbürokratisierung? Es gibt meines Erachtens eine Bringschuld des BMVg und der Bundeswehr. Sie müssen auch zeigen, dass sie in der Lage sind, schlanker und effizienter zu werden.
Kommen wir abschließend zu Ihrer Einschätzung der näheren Zukunft: Was wird Ihrer Ansicht nach im Winter in der Ukraine passieren?
Wir können nur in Szenarien und Wahrscheinlichkeiten denken. Demnach deutet alles darauf hin, dass der Abnutzungskrieg weiter geht. Einen operativen oder gar strategischen Durchbruch sehe ich nicht kommen. Ich wünschte mir, die Ukrainer könnten den Krieg gewinnen. Realistisch denke ich jedoch, dass wir Weihnachten die im Wesentlichen gleiche Front sehen werden.
Herr Prof. Dr. Neitzel, ich bedanke mich für Ihre Offenheit und das Gespräch.
Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal
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