Alfons Mais: „Die Einsätze haben uns vieles gelehrt, was den Umgang mit Versehrten anbelangt.“

Kalenderwoche 37 // Militärische Perspektive

Generalleutnant Alfons Mais ist Inspekteur des Heeres. Traditionell trägt das Heer bei Einsätzen die Hauptlast an Toten, Verwundeten und Versehrten. Anlässlich der erstmals in Deutschland erstmals stattfindenden „Invictus Games“, ist Lagebild Sicherheit mit Alfons Mais ins Gespräch gegangen: Was bedeuten die Invictus Games, gerade mit Blick auf die Zeitenwende, für ihn? Wo sieht er in Deutschland Verbesserungsbedarf im Umgang mit Versehrung und welche Gedanken hat er sich ganz persönlich vor seinen Auslandseinsätzen gemacht?

Die Invictus Games 2023 sind für Militärs ein echtes Großereignis. In der Vergangenheit beschränkte sich die Wahrnehmung jedoch meist auf diesen Kreis. Ihr ganz persönlicher Eindruck: Ist die Zeitenwende bereits in den Köpfen der Deutschen angekommen? Und gilt das in gleicher Weise für Politik und Medien?

In meinen Augen waren Krieg und seine Folgen für die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit seit 1990 eher ein historisches Thema als von tatsächlicher tagespolitischer Relevanz. Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich dies nun grundlegend geändert. Die schockierenden Bilder aus diesem Krieg gehen um die Welt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Meldungen zu russischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung oder zum Fortschritt der ukrainischen Gegenoffensive nicht Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung und des politischen Diskurses sind. Über die konkrete Ausgestaltung der Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik wird durchaus immer noch kontrovers debattiert.

In den grundsätzlichen Fragen jedoch, etwa der Unterstützung der Ukraine, gibt es aber einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Was es also heißt, von Krieg in Europa und damit der Zeitenwende zu sprechen, ist meiner Meinung nach durchaus im Bewusstsein der meisten Menschen in Deutschland angekommen. Ich denke, dass die Notwendigkeit, unsere Soldatinnen und Soldaten in ihrem Dienst für die Freiheit Deutschlands und ihrer Bündnispartner zu unterstützen, ebenfalls klarer gesehen wird. Dazu gehören im besonderen Maße auch unsere Versehrten und ich glaube, dass die Invictus Games 2023 in Düsseldorf dies unterstreichen. Ich bin sehr froh, dass dieser Wettbewerb erstmals in Deutschland stattfindet. Gerade im Hinblick auf die vielen versehrten ukrainischen Soldaten, die sich zum Teil auch in deutschen Krankenhäusern zur Behandlung aufhalten, ist es wichtig den negativen Bildern und Berichten etwas Hoffnungsvolles entgegenzusetzen. Getragen von großem öffentlichem Interesse wird sich Düsseldorf als Austragungsort mit Sicherheit als ein sehr guter Gastgeber und dem Motto der Spiele folgend als „A Home For Respect“ erweisen.

Die Amerikaner, Briten, Franzosen und Israelis haben ein ganz anderes Verhältnis zu ihren Versehrten. Welchen Teil einer dieser Kulturen würden Sie gerne aus dem Ausland nach Deutschland transferieren?

Ihre Beobachtung ist zunächst einmal nicht von der Hand zu weisen: Wie so vieles andere ist der Umgang mit den eigenen Veteranen über Jahrzehnte oder länger je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gewachsen. Somit sind diese Systeme eher schwierig zu vergleichen und kaum 1:1 zu übertragen. Bezogen auf die britischen Streitkräfte bilden natürlich die Invictus Games ein Leuchtfeuer im Umgang mit Versehrung. Ins Leben gerufen bekanntlich vom Herzog von Sussex, Prinz Harry, der die Spiele zurückblickend auf seine eigenen Erfahrungen als Soldat und die Bilder von Verwundeten vor Augen als Form der Anerkennung für versehrte Veteranen verstanden wissen wollte. Sie sind in meinen Augen ein einzigartiges internationales Sportevent.

Ich bin außerdem beeindruckt, wie die israelischen Streitkräfte mit ihren Versehrten umgehen und diese unabhängig ihrer Einschränkungen im Dienst integrieren. Jeder kann nach seinen Möglichkeiten weiter einen Beitrag zur Sicherheit und Verteidigung des eigenen Landes leisten. Im Rollstuhl sitzende Soldaten steuern dort Drohnen oder sind in der Flugabwehr tätig. Sie dienen somit nicht nur weiter ihrem Land, sondern dienen ihren Kameraden auch tagtäglich als ein Beispiel an Leidensfähigkeit, Mut und Einsatzwillen. Damit ist allen Seiten geholfen. Die versehrten Kameraden gehen einer Tätigkeit nach, die sie für sinnvoll halten, während alle anderen sehen können, dass eine Versehrung nicht das Ende ist. Ich würde mir wünschen, dass es in Deutschland verstärkt zu eigenen Initiativen aus der Öffentlichkeit kommt, die auf das Schicksal von Versehrten unserer Streitkräfte aufmerksam machen und die gesellschaftliche Inklusion aktiv vorantreiben. Aktuell finden aus aktuellem Anlass immer wieder Diskussionen um Fragen rund um die Bundeswehr statt. Im Hinblick auf Veteranen im Allgemeinen oder Versehrte im Speziellen sind solche Diskussionen natürlich wichtig, um diese Themen grundsätzlich im öffentlichen Diskurs zu halten. Dieser Diskurs entsteht aber zumeist aus „zufälligen“ Ereignissen; seien es Verwundungen durch Anschläge, harte Schicksale, die in den Medien aufgenommen werden, oder, so wie in diesem Jahr die Invictus Games in Deutschland. Das sollte uns als Gesellschaft meinem Erachten nach nicht reichen. Den Versehrten die gebührende Anerkennung für die dem Volk geleisteten Dienste zu zollen, ist grundsätzlich eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe.

Sie sind selbst im Einsatz gewesen und das Heer trug in der Vergangenheit häufig die Hauptlast bei den Einsätzen der Bundeswehr, ISAF, SFOR, etc. Wie haben Sie sich selbst und Angehörige darauf vorbereitet, dass zu jedem Einsatz das Risiko von Tod und Verwundung gehört?

Dazu möchte ich zunächst etwas sehr Grundsätzliches voranstellen: Verwundung und Tod sind Bestandteile des Soldatenberufs. Jeder Soldatin und jedem Soldaten ist das bewusst und wir gehen im Heer auch offen damit um. Sie finden es zum Beispiel als Thema im lebenskundlichen Unterricht, aber auch immer wieder in der Führerausbildung. Dass die Beschäftigung mit dem Thema in einem Krisen- oder Kriegsgebiet bzw. in Vorbereitung darauf deutlich an Bedeutung gewinnt, ist, glaube ich, eingängig. Allen Soldatinnen und Soldaten und, ganz wichtig, auch ihren Angehörigen ist das grundsätzlich klar, auch wenn die Gedanken dazu natürlich nicht den Alltag bestimmen.

Zu meinen eigenen Erfahrungen kann ich sagen, dass man auf das Thema früher einen anderen Blick hatte. Die Bundeswehr und das Deutsche Heer haben sich, seitdem ich zum ersten Mal 1999 bei der Stabilisation Force (SFOR) in Bosnien-Herzegowina im Einsatz war, in Aufklärung, Prävention und Nachsorge deutlich weiterentwickelt. Die notwendigen Veränderungen entstanden aber häufig erst durch schmerzliche Erfahrungen, vor allem durch die ersten Verwundeten und Versehrten. Hierbei mussten Prozesse geändert beziehungsweise eingeführt, Gesetze verabschiedet und umgesetzt werden. Als Ergebnis dieser Erfahrungen verfügt die Bundeswehr seit Jahren über ein zuverlässiges und engmaschiges Netz an Fürsorgemaßnahmen, das die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des Einsatzes für alle Beteiligten so gering wie möglich halten soll. Angefangen von speziellen Personalbögen, auf denen alle persönlichen Erreichbarkeiten erfasst werden, über die Einheiten selbst, die häufig gezielte Maßnahmen für Familienangehörige während der Einsatzzeit anbieten, bis hin zu unseren Familienbetreuungszentren und Militärgeistlichen, die in allen rechtlichen und emotionalen Themen äußerst versierte Ansprechpartner darstellen.

Mit der Fokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung stehen nun andere Szenarien im Mittelpunkt der Überlegungen. Sprechen wir als deutsche Gesellschaft über Kriegsbereitschaft, Bündnisverteidigung und Zivilschutz müssen auch Verwundung und Versehrtheit betrachtet werden. Dabei sind die Erfahrungen aus den Dekaden der Einsätze grundsätzlich hilfreich. Diese dürfen wir nicht ad hoc verdrängen, sondern müssen sie konsequent weiterentwickeln.

 Hat die Bundeswehr in der Vergangenheit die richtigen Lehren aus ihren Einsätzen gezogen, wenn es um den Umgang mit ihren Versehrten geht?

Das möchte ich deutlich bejahen. Die Einsätze haben uns vieles gelehrt, was den Umgang mit Versehrten anbelangt, insbesondere wurden uns immer wieder Mängel aufgezeigt. Eine ausreichende finanzielle und soziale Absicherung für im Einsatz oder im normalen Dienstbetrieb versehrte war nicht von Beginn an gegeben. Erst vor 15 Jahren trat das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz in Kraft. Damals blickte die Bundeswehr bereits auf eine ebenso große Zeitspanne an „Einsatzrealität“ zurück. Das Gesetz garantiert, dass Betroffene erst nach bis zu acht Jahren versetzt oder aus dem Dienst entlassen werden können. Bei weiterhin bestehender Schädigung besteht anschließend in allen Laufbahngruppen die Möglichkeit in den Status eines Berufssoldaten übernommen zu werden. Die bloße finanzielle Absicherung ist jedoch nicht mit sozialer Anerkennung gleichzusetzen. Dauerhaft und nachhaltig Versehrte sichtbar zu machen, ihnen für ihren Einsatz zu danken und ihnen gegenüber Respekt auszudrücken, ist für mich als Inspekteur des Heeres ein zentrales Anliegen und fürsorgliche Verpflichtung. Noch immer ist zu vielen Menschen, auch innerhalb des Heeres, nicht bekannt, welche Opfer viele unserer Kameraden gebracht haben und wie wichtig die Aufträge sind, die sie dessen ungeachtet in unserer Mitte erfüllen.

Kurz gesagt: Vieles ist für unsere Versehrten bereits erreicht worden - das soll aber nicht heißen, dass es keinen weiteren Raum für Verbesserung und Weiterentwicklung gäbe. Das fängt mit dem ganz grundsätzlichen Herstellen von mehr Sichtbarkeit an. Hier leisten die Invictus Games im Großen einen wichtigen Beitrag. Wir im Heer haben uns mit der Herausgabe unseres Buches „Über Leben – Versehrte im Heer. Zwischen Pflichtgefühl, Angst und Hoffnung“ im Kleinen ebenfalls auf den Weg gemacht unseren Beitrag weiterzuentwickeln. Wichtig bleibt außerdem alle, Verwundete und Versehrte, am Diskurs um Verbesserungen zu beteiligen und Ihnen zuzuhören.

Der Verteidigungsminister hat die Stationierung einer Brigade in Litauen in Aussicht gestellt. Wie bewerten Sie diese Absicht?

Die grundsätzliche Absicht ist formuliert. Wir planen jetzt, wie dies umzusetzen ist. Grundsätzlich sehe ich es so, dass mit der Entscheidung die momentanen sicherheitspolitischen Linien konsequent weiterentwickelt und auf die nächste Stufe gehoben werden. In Ihrer ersten Frage haben Sie die Zeitenwende angesprochen. Die Stationierung einer Brigade in Litauen ist ein deutliches Signal dafür, dass die Zeitenwende auch umgesetzt wird. Die Bundeswehr, und hier besonders das Heer, betritt dabei Neuland. In diversen Zuständigkeiten werden deshalb derzeit kreative Lösungen entwickelt, um den Auftrag, d.h. Abschreckung- und Verteidigungsfähigkeit im Bündnisrahmen umzusetzen. Der Fokus der Landes- und Bündnisverteidigung liegt, wie Sie wissen, bereits eine ganze Weile auf der Ostflanke der NATO. Die baltischen Staaten und für uns insbesondere Litauen füllen nun die Rolle, die Deutschland über 40 Jahre in der Verteidigungsplanung des Bündnisses zufiel: ein Stationierungs- und Übungsort zur Abschreckung eines äußeren Aggressors an der Außengrenze des Bündnisgebiets.

Herr General, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal


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